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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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sie erschrocken an und rüttelte sie an der Schulter. »Nehmen Siedie Kopfhörer ab. Die Synchronübersetzung ist längst zu Ende.«
    »Ja, natürlich.« Lisa zuckte zusammen und schaute sich um, als sei sie aus dem Schlaf erwacht. Der Metallbügel der Kopfhörer hatte sich in ihrem Haar verfangen, sie zog so heftig, daß sie sich ein ganzes Büschel Haare ausriß. Tränen traten ihr in die Augen.
    »Haben Sie immer noch Kopfschmerzen?« fragte Carrie teilnahmsvoll. »Oder hat dieser Krassawtschenko Sie derart aus der Fassung gebracht? Sie sehen ja schrecklich aus!«
    »Ja, ich habe Kopfschmerzen. Ich glaube, ich gehe besser«, flüsterte Lisa.
    Sie wartete ab, bis der Redner seinen Vortrag beendet hatte, und bahnte sich dann während des matten Beifalls den Weg zum Ausgang. Die Plastikmappe hielt sie in der Hand. Sie hatte schreckliche Angst, die Fotos könnten herausrutschen.
    In den elften Stock brauchte sie gar nicht hinauf. Krassawtschenko saß im Foyer und las eine russische Zeitung.
    »Ich habe gewußt, Sie würden es nicht länger als eine Stunde aushalten, und deshalb auf Sie gewartet. Hier gibt es übrigens russische Zeitungen. Das ist eine ziemlich neue Nummer, von vorgestern, mit höchst interessanten Neuigkeiten. Ein Kollege von Ihnen, der Journalist Butejko, ist ermordet worden. Nachts in seinem Hausflur erschossen. Haben Sie nicht mit ihm zusammen beim selben Sender angefangen und sogar einmal an einer Talkshow von ihm teilgenommen? Na, Sie sind ja ganz blaß geworden. Tut es Ihnen so leid um Ihren Kollegen?«
    Ohne ein Wort zu sagen, nahm Lisa ihm die Zeitung aus der Hand und las die kurze Notiz auf der letzten Seite. Nur mit Mühe begriff sie den Sinn des Textes.
    In ganz Ostankino, wahrscheinlich auf der ganzen Welt,gab es keinen Menschen, mit dem sie eine so lange gegenseitige Feindschaft verband.
    Das wollte ich nicht, dachte sie unwillkürlich.
    »Na, gehen wir?« sagte Krassawtschenko mit breitem, einladendem Grinsen.
    »Wohin?« fragte Lisa, kaum die Lippen bewegend, und warf die Zeitung auf den Tisch.
    »Zu mir auf mein Zimmer, einen Film ansehen. Ich denke, der Videorecorder ist bereits angeschlossen. Man kann die Geräte hier mieten. Sehr bequem.«
    »Was faseln Sie? Was für einen Film?«
    »Sie können sich doch sicher denken, was für einen. Einen Erotikfilm aus dem Leben des allseits beliebten Fernsehstars Jelisaweta Beljajewa.«
    »Hören Sie, Krassawtschenko, oder wie heißen Sie eigentlich wirklich?« Lisa ließ sich in den Sessel fallen und zündete sich eine Zigarette an. »Ich werde mit Ihnen nirgends hingehen. Sie stehen mir bis hier.« Sie legte die brennende Zigarette in den Aschenbecher und schüttelte die Fotos aus der Mappe. Es waren insgesamt drei. Ohne sie anzuschauen, zerriß sie sie in kleine Stücke. Einige Augenblicke später lagen nur noch bunte, glänzende Schnipsel vor ihr. Sie fegte sie in ihre Hand, stand auf und warf sie in den Papierkorb. Krassawtschenko beobachtete sie schweigend. Sie kehrte zum Tisch zurück, drückte ihre Zigarette aus, nahm die Mappe und ging zum Lift. Er blieb sitzen.

Kapitel 27
    Der Graf bemühte sich, nicht daran zu denken, daß im satten, schläfrigen Nichtstun der kostbare Rest seiner Jugend unwiederbringlich verstrich. Irina paßte kaum noch durchdie Tür und konzentrierte sich jetzt völlig auf die zahlreichen komplizierten Krankheiten, die durch ihre Fettleibigkeit hervorgerufen wurden. Sie entwickelte sogar eine Vorliebe fürs Lesen, für das sie sich früher nie interessiert hatte. Zunächst tauchten im Haus alle möglichen Traum- und Kräuterbücher sowie Rezeptsammlungen aus der Volksmedizin auf. Dann entdeckte der Graf auf ihrem Toilettentisch ein Lehrbuch der praktischen Magie.
    »Ich bin verhext worden«, verkündete sie eines Morgens beim Frühstück, »und ich weiß auch, von wem.«
    »Genug davon, Irina«, versuchte ihr Vater, der gerade zu Besuch war, sie zur Vernunft zu bringen. »Was faselst du da wie ein dummes Bauernweib? Iß lieber weniger. Versuch dich zu beherrschen.«
    »Ich bin auch so schon ganz von Kräften. Nötig ist etwas ganz anderes.«
    »Und was?« erkundigte sich der Graf.
    »Dir, Michail, werde ich das nicht sagen.« Sie funkelte ihren Mann mit ihren kleinen schwarzen Augen an, und ihm wurde unheimlich zumute. In der letzten Zeit sprach sie fast gar nicht mehr mit ihm, sah ihn nur böse und mißtrauisch von der Seite an.
    Ihr ganzes Interesse galt Zaubersprüchen, Beschwörungen, allen Arten von Magie

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