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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Natascha hat mir in ihrem Brief genau darüber berichtet und hat noch einen Brief von einem Oberleutnant Sokowin, einem KameradenIwans, in den Umschlag gelegt. Es ist, als hätte ich alles wie mit eigenen Augen gesehen, seinen Schmerz, sein Entsetzen gefühlt. Wie soll ich jetzt noch leben? Fahrrad fahren, Erdbeeren essen, Nocturnes von Chopin spielen?« Böse wischte sie sich mit der Faust die Tränen von den Wangen. »Und nun lassen Sie mich gehen, Graf.«
    »Ich lasse Sie nirgendwohin, und wenn Sie noch so schreien und um sich schlagen. Solange Sie sich nicht beruhigt haben, lasse ich Sie nicht fort.«
    Sie wollte etwas sagen, ihre Lippen zitterten, über ihre Wangen liefen Tränen. Der Graf ließ sie nicht zu Wort kommen, drückte ihren Kopf mit einer jähen, heftigen Bewegung an seine Brust, vergrub sein Gesicht in ihrem von der Sonne erwärmten Haar und flüsterte verzweifelt: »Ich will nicht, daß Sie sich auf eine Stufe mit diesen betrunkenen Deserteuren begeben, die einen lebendigen Menschen mit ihren Stiefeln totgetrampelt haben. Sie tun ja jetzt das gleiche, Sie bringen Ihren Vater, Ihre Großmutter um, Sie zertrampeln sie. Und sie werden nicht einfach zugrunde gehen, sondern schreckliche Schmerzen empfinden wie dieser arme Leutnant. Diese Schmerzen werden sogar noch viel schlimmer sein, denn die Schmerzen der Seele sind schwerer zu ertragen als die des Körpers. Ich spreche nicht von mir, ich bin ganz unwichtig, aber denken Sie trotzdem auch daran, Sie töten drei Menschen auf einmal. Ich werde endgültig dem Trinken verfallen, ich werde wahnsinnig werden, wenn es das Knirschen Ihrer Reifen, das Läuten Ihrer Fahrradklingel nicht mehr gibt. Ich werde sterben, wenn ich nie mehr sehe, wie Sie mit einem Buch auf der Veranda sitzen, nie mehr höre, wie Sie auf dem Flügel spielen. Ich bin ein alter Mann, eine Null, zu nichts mehr nütze, fast gar nicht mehr da, aber ich lasse Sie nirgendwohin, einfach darum, weil ich Sie liebe, Sonja.«
    Ihre Schultern zitterten nicht mehr. Sie rührte sich nicht,drückte ihr Gesicht an seine Brust, es war, als atme sie nicht einmal mehr. Sie saßen schweigend in dem vom abendlichen Tau feuchten Gras. In der Stille hörte man die Hähne im Dorf zur guten Nacht krähen und die Fische im Flüßchen Obeschtschaika plätschern.
    Der Graf streichelte sanft über ihr glänzendes schwarzes Haar, und seine Hand kam ihm schwer und grob vor. Endlich befreite sich Sonja aus seinen Armen, hob ihr Gesicht zu ihm hoch und sagte leise: »Ihr Herz klopft ganz laut, Michail.«

Kapitel 28
    Den Welpen nannten sie dann doch nicht Warja, sondern Frida. Ganze Tage lang ging Warja mit ihm spazieren, sie war gern in seiner Gesellschaft.
    Sokolow bekam niemals Besuch. Warja schien es, als habe er nicht nur keine Freunde, sondern auch keine Verwandten. Er erzählte fast nichts von seiner Kindheit, von seinem Wehrdienst, von seiner Arbeit. Er hüllte sein Leben in ein rätselhaftes Dunkel, tat, als habe er weder eine Vergangenheit noch eine Gegenwart. Übrigens ging es ihr selber ähnlich. Manchmal fühlte sie sich, als existiere sie außerhalb der Zeit, sogar außerhalb des Raums, im neunten Stock eines neuen weißen Plattenbaus, mit schneebedecktem Brachland vor dem nackten Fenster. Eine Matratze auf dem Fußboden, ein Küchentisch, zwei Hocker, ein Kühlschrank, ein paar Tassen und Teller auf dem Ablaufrost über der Spüle.
    Als sie ihn fragte, warum er keine Möbel kaufe, zumindest ein Bett, knurrte er zur Antwort: »Wenn ich was kaufe, dann gleich was Ordentliches. Aber dafür reicht es vorläufig noch nicht. Schon mit der Wohnung habe ich mich fast übernommen.«
    Natürlich wußte sie nicht, daß es ihm gefiel, mit ihr auf der Matratze zu schlafen, und daß das kahle Zimmer ihn an die leere Kommunalwohnung in der Maljuschinka erinnerte.
    Wenn er zurückkam und sie das Knirschen des Schlüssels im Schloß hörte, blieb ihr fast das Herz stehen. Seine Hände, grobe, starke Hände, zogen sie gleichsam jedesmal aufs neue aus dem eiskalten, todbringenden Wasser. Sie preßte sich an ihn, um sich zu wärmen. Oft tat er ihr weh, aber sie merkte es nicht, weil jede Zelle ihres Körpers sich deutlich an den tödlichen Schmerz erinnerte, als das eisige Wasser sie zerreißen wollte wie ein Schwarm hungriger Piranhas.
    Er sagte ihr viele verletzende, böse Worte, aber dabei blickten ihr seine Augen ruhig und aufmerksam ins Gesicht, und dann dachte sie, daß er gar nicht meinte, was er sagte, und daß er

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