Russische Orchidee
und Schamanentum. Um Mitternacht, bei einer bestimmten Position des Mondes, ging sie in das Eichenwäldchen, riß dort irgendein Kraut aus und weichte die Knollen im Blut eines schwarzen Hahnes ein, dem sie zuvor eigenhändig die Kehle durchgeschnitten hatte. Gemeinsam mit dem alten Stubenmädchen Klawdija befaßte sie sich mit Spiritismus. Dabei ging es ihr weniger um ihre Genesung als vielmehr um die Suche nach einem Schuldigen.
Irina verdächtigte Gott und die Welt, an ihren Leidenschuld zu sein. Mal erschien ihr der Geist der sittenlosen Kaiserin Kleopatra und lachte ihr frech ins Gesicht, mal war es die verstorbene Popenfrau aus dem Nachbardorf, die sie heimsuchte und ihr in die Kohlsuppe spuckte. Zur wichtigsten und interessantesten Person ihrer spiritistischen Nachforschungen wurde jedoch ihr eigener Mann. Sie war überzeugt, er wolle sie vernichten und eine andere heiraten.
Normalerweise hätte Michail wohl Trost im Alkohol gesucht, wie das der Russe im Unglück so oft tut, aber es fand sich eine Tätigkeit, die ihn begeisterte und sogar inspirierte.
Der Graf hatte den Rat von Doktor Baturin befolgt und wieder zu malen begonnen. In seiner frühen Jugend hatte er Straßenszenen gezeichnet, Studentenfeiern und mondäne Salons. Manchmal hatte er irgendein charakteristisches Gesicht in der Menge entdeckt und es für die Nachwelt verewigt. Aber besonders gut waren ihm stets Karikaturen gelungen.
Jetzt faßte er eine Vorliebe für einfache, realistische Landschaften. Mit dem Skizzenbuch ging er in den Wald, aufs Feld oder zu dem kleinen, flinken Flüßchen Obeschtschaika in einiger Entfernung von Boljakino.
An einem heißen Juliabend war er einmal so in den Anblick der unterschiedlichen Schattierungen des Abendhimmels und der Fichtenwipfel vertieft, daß er das leichte Knirschen der Fahrradreifen hinter sich nicht hörte.
»Sie machen ja Fortschritte, Euer Erlaucht«, sagte eine volle, dunkle Stimme direkt an seinem Ohr, er fuhr zusammen, wandte sich abrupt um und sah in zwei strahlendblaue, spöttische Augen.
»Guten Abend, Sonja.« Der Graf konnte nicht malen, wenn ihm jemand über die Schulter schaute, er legte den Pinsel zur Seite und nahm sich eine Zigarette. »Ist denn keinUnterricht mehr im Gymnasium?« fragte er mit verlegenem Räuspern.
»Haben Sie vergessen, welchen Monat wir haben?« sagte Sonja lächelnd. »Es ist Juli, Ferienzeit. Außerdem habe ich das Gymnasium in diesem Jahr beendet.«
Sie zeichnete mit der Spitze ihres weißen Schuhs einen langen Bogen in den feuchten Sand. Der Graf überlegte fieberhaft, was er sagen könnte. Ihr von der heißen Sonne beschienenes Gesicht wirkte durchsichtig, leuchtete gleichsam mit einem zartrosa Schein von innen.
»Und welche Pläne haben Sie für die Zukunft, Sonja?«
»Ich will an die Front, als Barmherzige Schwester«, sagte sie schnell und ernst.
»Sonja, wie kommen Sie denn darauf? Was wollen Sie da?« Der Graf war entsetzt. »In verlausten Schützengräben, unter dreisten, betrunkenen Soldaten und Deserteuren, zwischen Maschinengewehren und Giftgas. Ihr Vater wird Sie niemals dorthin lassen.«
»Er weiß vorläufig nichts davon. Und Sie werden ihm nichts sagen, Michail Iwanowitsch.« In ihren Augen bemerkte er einen so kalten, entschlossenen Glanz, daß er erschrak.
»Ich werde es ihm ganz bestimmt sagen, und zwar noch heute.«
»Warten Sie bitte bis morgen, seien Sie so gut. Morgen werde ich nicht mehr hier sein, aber damit er nicht denkt, mir wäre etwas passiert, geben Sie ihm diesen Brief.« Sie reichte ihm einen kleinen, unversiegelten Umschlag.
»Sonja, Sie bringen ihn um«, sagte der Graf leise und bemühte sich, die Ruhe zu bewahren, »und der Krieg ist doch auch bald zu Ende.«
»Er ist nie zu Ende.« Sonja ergriff die Lenkstange ihres Fahrrads, das an einer Birke lehnte. »Leben Sie wohl, EuerErlaucht. Sagen Sie Papa nichts, geben Sie ihm einfach morgen diesen Brief. Er wird mich verstehen und mir verzeihen.«
»Nein, Sonja«, der Graf faßte nach ihren eiskalten kleinen Händen, die den Fahrradlenker umklammerten, »ich lasse Sie nirgends hin.«
»Nicht doch, Sie wissen, daß Sie mich nicht zurückhalten können. Sie führen sich ja auf wie der Dorfpolizist. Lassen Sie mich bitte los.« Vergeblich versuchte sie, sich dem Griff seiner heißen Hände zu entziehen.
»Ja, dann benehme ich mich eben wie ein Polizist, und wenn nötig, werde ich Sie sogar binden und einsperren. Was Sie vorhaben, ist dumm und kindisch. Sie lieben
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