Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
Vom Netzwerk:
nicht.«
    »Ist er denn nun zurechnungsfähig oder nicht?«
    »Manchmal wirkt er ganz vernünftig – reagiert angemessen und redet zusammenhängend. Im übrigen bin ich Kardiologe, kein Psychiater.«
    Untersuchungsführer Borodin hatte Kossizki bereits gewarnt, daß es nicht einfach sein würde, sich mit dem Vater des Ermordeten zu unterhalten.
    »Du mußt ganz vorsichtig von der Vergangenheit anfangen, das Gespräch aufs Juwelierhandwerk bringen, aber paß auf, daß du ihn nicht erschreckst. Hör lieber auf, wenn er allzu heftig reagiert«, gab Borodin dem Hauptmann mit auf den Weg. »Und vor allem mußt du versuchen herauszufinden, warum er seinen Beruf so plötzlich gewechselt hat und aus dem Juweliergeschäft in die Schuhfabrik gegangen ist.«
    Kaum hatte Kossizki die Schwelle der sogenannten »Krankenbox« überschritten, als ein dumpfes Flüstern ertönte: »Halt! Zeigen Sie Ihre Hände!«
    Kossizki brauchte einen Moment, bis er begriff, wer da flüsterte und von wo das Flüstern kam. Das Bett war leer, die Decke zerknautscht. Der Kranke saß zusammengekauert auf dem Fußboden hinter dem Nachttisch.
    Der ist tatsächlich komplett übergeschnappt, dachte Kossizki mitleidig, ist ja auch kein Wunder, wenn man seinen einzigen Sohn verliert.
    »Wjatscheslaw Iwanowitsch, was soll denn das heißen!« rief der Arzt. »Rasch zurück ins Bett, jemand von der Miliz will Sie sprechen.«
    Als Antwort hörte man ein blechernes Scheppern. Ein kleiner, magerer alter Mann mit einem großen, vollkommen kahlen Kopf kroch hinter dem Nachttisch hervor. In der Hand hatte er einen Nachttopf, den er wie einen Schild vor sich hielt.
    »Von der Miliz?« Er blickte den Hauptmann mißtrauisch an. »Und warum trägt er keine Uniform? Haben Sie seine Papiere überprüft? Haben Sie ihn durchsucht? Vielleicht hat er eine Waffe?« Der Kranke wollte sich nicht beruhigen. »Ich habe Sie gewarnt, sie werden bestimmt hierherkommen. Es war sinnlos, daß Sie mir das Leben gerettet haben, nur damit ich hier, vor Ihren Augen, umgebracht werde.«
    Kossizki zog seinen Dienstausweis hervor und zeigte ihn dem Kranken.
    »Ich bin Hauptmann der Miliz, Wjatscheslaw Iwanowitsch, mein Name ist Kossizki. Wer will Sie umbringen?«
    Butejko durchbohrte ihn mit seinen Blicken, erwiderte aber nichts, stellte den Nachttopf auf den Boden, schob ihn mit dem Fuß unters Bett, schlurfte dann barfuß zum Waschbecken und wusch sich lange und gründlich die Hände. Inallen seinen Bewegungen spürte man seine innere Panik. Er zog den Kopf zwischen die Schultern, blickte sich angstvoll nach dem Hauptmann um, als erwarte er, daß der gleich eine Pistole ziehen und damit herumballern werde. Schließlich trocknete er sich die Hände ab, rannte zu seinem Bett, kroch in eine Ecke und zog sich die Decke über die Knie.
    »Ich gehe jetzt. In fünf Minuten habe ich Visite«, sagte der Arzt.
    »Nein!« brüllte der Kranke. »Gehen Sie nicht weg! Ich werde nur in Ihrer Gegenwart mit ihm sprechen. Ich sehe diesen Mann zum allerersten Mal und habe kein Vertrauen zu ihm.«
    Mit erstaunlicher Behendigkeit sprang der Kranke aus dem Bett, versperrte dem Arzt den Weg, stellte sich auf die Zehenspitzen, packte ihn am Kittel und flüsterte ihm ins Ohr: »Mir gefällt dieser Bursche nicht, sehen Sie doch nur, wie er mich anschaut. Er bringt mich um, bestimmt bringt er mich um. Sie machen schon seit vierzehn Jahren Jagd auf mich.«
    »Beruhigen Sie sich«, seufzte der Arzt, »ich habe den Genossen von der Miliz eigens hergebeten, damit er herausfindet, was los ist, wer Sie verfolgt und umbringen will.«
    »Sie haben ihn also geholt?« Butejko sank augenblicklich in sich zusammen und kehrte in sein Bett zurück. »Und haben Sie auch seine Papiere geprüft?«
    »Ja, ja, beruhigen Sie sich, erzählen Sie dem Hauptmann alles, was Sie mir erzählt haben.« Ein kaum merkliches spöttisches Lächeln huschte über das Gesicht des Arztes. »Entschuldigen Sie, ich muß gehen.«
    Kossizki schob einen Stuhl ans Bett. Butejko starrte ihn unverwandt an. Die Augen des alten Mannes waren rot und entzündet.
    »Ich schlafe schon seit vierzehn Jahren nicht mehr«, teilte er mit pfeifendem Flüstern mit.
    »Warum nicht?« fragte der Hauptmann, ebenfalls flüsternd.
    »Er kommt jede Nacht. Kaum nicke ich ein, taucht er vor mir auf. Ich sehe sein Gesicht. Wissen Sie, was für ein Gesicht ein Mensch hat, den man mit einer durchsichtigen Plastiktüte erstickt?«
    Na, großartig! beglückwünschte sich Kossizki. Haben

Weitere Kostenlose Bücher