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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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wir jetzt etwa noch eine Leiche? Einen unaufgeklärten Mord, der vierzehn Jahre zurückliegt, einen Toten mit einer Plastiktüte auf dem Kopf? Wenn mich da der alte Borodin nicht vor Freude mit Mamas Piroggen bewirtet …
    »Von wem sprechen Sie?« fragte der Hauptmann rasch.
    »Von dem Toten«, erwiderte Butejko und schaute sich ängstlich nach allen Seiten um.
    »Er wurde ermordet?«
    »Ja.«
    »Von wem?«
    »Von Pawel.«
    »Familienname?«
    »Von wem?«
    »Na, von diesem Pawel.«
    »Verstehen Sie denn nicht?« Der Kranke schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Steine haben keine Familiennamen. Sie haben alles – eine Geschichte, ein Schicksal, Blut, lebendiges, menschliches Blut, aber Familiennamen haben sie nicht. Pawel wurde von einem Huhn gelegt, 1829 im Ural, und sein Schicksal läßt sich nur bis zum Jahre 1917 verfolgen. Seitdem ist er verschwunden. Aber Steine wie er verschwinden niemals ganz. Sie tauchen immer wieder aus dem Nichts auf, damit von neuem Ströme von Blut fließen.«
    Nein, keine Kohlpiroggen von Mama, dachte Kossizki mit ironischem Lächeln. Hier fördere ich nichts mehr zutage. Ein Verrückter, der Unsinn redet, und ich Trottel höre ihm zu.
    »Wissen Sie, Wjatscheslaw Iwanowitsch, quälen Sie sich nicht, erzählen Sie mir lieber sofort alles, dann wird es leichter«, sagte er im herzlichsten Tonfall, zu dem er fähig war.
    »Wem soll leichter werden?« Butejko schüttelte traurig den Kopf. »Ihm doch nicht, er ist längst tot. Er ist tot, aber er wird keine Ruhe geben, solange wir am Leben sind.«
    »Wie hieß er?« fragte der Hauptmann vorsichtig.
    »Kusja.«
    »Wie, war das ein Kater?«
    »Schön wär’s … Ein Säufer, ein Fixer war er, aber trotzdem ein Mensch. Ljolja hat genauso geredet wie Sie, sie hat gesagt, stell dir doch vor, das ist ein Tier, irgendein dahergelaufener Kater, der uns das Treppenhaus vollmacht.«
    »Ljolja, wer ist das?«
    »Wenn Sie’s nicht wissen, sag ich’s Ihnen nicht.«
    »Wjatscheslaw Iwanowitsch, wie soll ich die Wahrheit herausfinden, wenn Sie nicht reden wollen?«
    »Wozu wollen Sie das denn? Was soll das bringen? Artjom ist ermordet worden, jetzt sind wir an der Reihe. Ich verstehe nur nicht, warum man zuerst ihn umgebracht hat, er war damals doch noch ein Kind, erst sechzehn Jahre alt. Er wußte nichts und wird nun auch nie etwas erfahren.«
    »Unter dem Verdacht, Ihren Sohn umgebracht zu haben, steht ein früherer Mitschüler von ihm, ein gewisser Anissimow. Kennen Sie ihn?«
    »Den kenne ich seit seiner Kindheit. Er ist kein Mörder. Er war nur das Werkzeug. Zuerst haben sie ihn mit dem Ring zu mir geschickt. Als eine Art Warnung, sie wollten, daß ich Angst bekäme. Völlig überflüssig. Ich hatte diese ganzen vierzehn Jahre über Angst, aber ich hätte nie gedacht, daß Artjom der erste sein würde.«
    »Soll das heißen«, unterbrach ihn der Hauptmann vorsichtig, »das alles – Plastiktüte, Leiche, Pawel – liegt schon vierzehn Jahre zurück?«
    »Ja, es war 1985, im Juni. Es herrschte damals eine entsetzliche Hitze. Artjom hatte das neunte Schuljahr beendet und war mit seiner ganzen Klasse zur Kartoffelernte auf die Kolchose geschickt worden, wir hatten ihn noch weggebracht. Ljolja und ich wollten in Urlaub fahren. Ich hatte meinen letzten Arbeitstag vor dem Urlaub. Und da tauchte er auf. Er kam ins Geschäft und drückte sich lange am Ladentisch herum. Er sah nicht aus wie jemand, der sich irgend etwas in einem Juwelierladen kaufen kann. Bis Ladenschluß waren noch zehn Minuten, ein Milizionär forderte ihn auf zu gehen. Später sah ich ihn auf einer Bank im Hof sitzen. Er hatte einen erloschenen Zigarettenstummel zwischen den Zähnen und starrte in die Luft. Wissen Sie, was mich veranlaßt hat, mich zu ihm zu setzen? Mitleid. Ich dachte, er sei von Kriminellen zu uns ins Geschäft geschickt worden. So was war schon öfter vorgekommen. Bevor sie einen Raubüberfall machen, schicken sie so einen Laufburschen, der auskundschaftet, wer als letzter geht und die Tür abschließt und um wieviel Uhr der Geldtransporter kommt. Später lassen sie den Armen hängen, liefern ihn aus. Übrigens war ich immer ein guter, anständiger Mensch. Ich habe vielen geholfen, selbst wenn es für mich riskant war. Aber natürlich wollte ich auch nicht, daß unser Laden ausgeraubt wird.«
    Der Hauptmann sah, daß dem Kranken Tränen übers Gesicht liefen und seine mageren Schultern bebten.
    »Möchten Sie vielleicht etwas Wasser?« fragte er.
    »Nicht nötig …«

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