Russische Orchidee
Bewohner des Erdgeschosses hätten doch irgend etwas merken müssen, auch wenn sie schliefen. Eine Pistole ohne Schalldämpfer, geflieste Wände mit einer ausgezeichneten Akustik.
Die Leiche war von einer Frau gefunden worden, die mit ihrem Hund Gassi gehen wollte. Sie hatte die Miliz gerufen. Ein Mieter aus dem Erdgeschoß hatte ihr Schreien, nicht aber den Schuß gehört und war aus seiner Wohnung gekommen. Das alles war fünfundzwanzig Minuten nach dem Mord geschehen. Der betrunkene Mörder aber schlief zusammengerollt seelenruhig ganz in der Nähe der Leiche. Er mußte Butejko in die Schläfe geschossen haben, als dieser am Aufzug stand. Dann war er zur Haustür gelaufen. Er hatte drei Stufen hinunterzusteigen, doch das hatte er nicht mehr geschafft, er war kopfüber die Stufen hinuntergefallen und hatte das Bewußtsein verloren. Man hatte jedoch bei der ersten Untersuchung keinerlei Verletzungen bei ihm festgestellt. Er war also einfach nur eingeschlafen?
Borodin ging, immer noch vor sich hin murmelnd, in seinem Büro auf und ab, schaltete den Wasserkocher an und holte ein Päckchen mit Piroggen von seiner Mutter aus einer uralten Aktentasche. Zwei Piroggen mit Kohl, zwei mit Äpfeln. Jede sorgfältig in eine Papierserviette eingewickelt.
Auf seine Frühstückspause bereitete sich Borodin immer gründlich vor, niemals aß er hastig im Stehen oder verstreute Krümel über die Papiere auf dem Schreibtisch, nie vergaß er, sich sorgfältig die Hände zu waschen und nach dem Essen den Mund auszuspülen. In seinem Schränkchen hatte er Teller, Gabeln und einen großen Porzellanbecher, alles von zu Hause mitgebracht. Er trank seinen Tee niemals aus Gläsern. Der Becher stammte aus England, auf ihm waren Big Ben, der Buckingham-Palast und Wachsoldaten mit hohen schwarzen Mützen abgebildet. Borodin mochte den Tee sehr stark und sehr süß und unbedingt mit Sahne. Seine Mutter vergaß nie, ihm Kaffeesahne dazuzulegen.
Vor dem Essen ging Borodin zur Toilette, mit seiner eigenen parfümierten Seife in einer Seifendose und seinem eigenen kleinen Frotteehandtuch, wusch sich sorgfältig die Hände und kämmte sich vor dem Spiegel. Zurückgekehrt, legte er die Piroggen auf einen Teller, verrührte im Becher den Zucker und sang dabei mit schönem Tenor:
»Weit offen stand der Flügel, und die Saiten bebten.«
Er sang ziemlich sicher, ohne falsche Töne. Überhaupt sang er sehr gern, kannte viele Romanzen und alte russische Volkslieder auswendig. Seine Mutter, der einzige Mensch, der ihm nahestand, ging immer leise aus dem Zimmer, wenn er zu singen begann. Das bedeutete, daß ihr Sohn über etwas Ernstes und Wichtiges nachdachte und man ihn nicht stören durfte.
Sanja Anissimow war es gelungen, für kurze Zeit abzuschalten. Schlaf konnte man das nicht nennen. Er hörte alles, wasum ihn herum vor sich ging, aber seine Augen waren geschlossen. Er hoffte sehr, daß die Erinnerung zurückkäme, wenn er einschlafen und sich ein wenig erholen könnte.
Die Bank war zu hart, der Gestank und der Schmutz störten. Telefongeklingel, Stimmen, schlagende Türen – alles floß zu einem schweren, endlosen Dröhnen zusammen. Sanja schlief bereits, als durch dieses Dröhnen eine helle, zittrige Stimme zu ihm drang: »Bitte, bitte … Das ist mein Mann, Alexander Jakowlewitsch Anissimow … Ich muß doch wissen, was passiert ist, ich muß mit ihm sprechen.«
»Das ist nicht erlaubt. Sobald alle Formalitäten erledigt sind, können Sie mit ihm sprechen, vorausgesetzt, der Untersuchungsführer genehmigt es. Aber vorläufig ist es nicht möglich. Sie stören uns nur bei der Arbeit«, grummelte ein gutmütiger Baß zur Antwort.
Der Wachhabende trank Kaffee aus einem Pappbecher und kaute auf einem Hot Dog. Der Fall sollte an die nächsthöhere Stelle übergeben werden, Anissimow würde in einer halben Stunde aus ihrer Abteilung abgeholt werden, und der Wachhabende hatte seiner Frau erlaubt, zum »Affenkäfig« zu gehen. Doch er bereute seine Gutmütigkeit bereits. Die junge Mutter mit dem Säugling im Tragetuch war allzu kämpferisch gestimmt.
Sanja öffnete die Augen und erblickte als erstes einen mit Ketchup verschmierten Mund. In seinem Kopf zuckte blitzartig ein Bild auf: Dollarnoten auf einem hellen Teppich, ein mit roter Sauce beschmierter Mund, ein halbnacktes Mädchen mit Sternen auf den schweren Brüsten und einem beweglichen, muskulösen Bauch.
Ein Restaurant … Er war am Abend in einem Restaurant gewesen. Offenbar eins
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