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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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beruflichen Erfahrung, seines gemütlichen Bäuchleins, seines grauen Backenbartes, der sich um seine runden Wangen kringelte, und seiner Vorliebe für süßen Hefeteig und Fruchtkefir das Leben nicht ohne romantische Illusionen akzeptieren.
    Wenn man ihn Sherlock Holmes nannte, protestierte er nicht, aber was Pinkerton anging, war Borodin unversöhnlich. Wenn man ihn so nannte, begann er umständlich zu erklären, daß es zwei Pinkertons gegeben habe, die von vielen Leuten verwechselt würden, aber beide seien sie ausgemachte Schweine gewesen.
    Allan Pinkerton, die reale historische Person, wurde 1819 in Glasgow geboren, in der Familie eines armen schottischen Polizisten. Als junger Mann wanderte er nach Nordamerika aus, versuchte sich in vielen verschiedenen Berufen und eröffnete schließlich 1850 ein Detektivbüro. Das Firmenzeichen seines Büros war ein Auge, sein Wahlspruch lautete: »Wir schlafen nie.« Von Anfang an war das Detektivbüro sehr erfolgreich.
    Während des Bürgerkriegs ermittelte Pinkertons Detektivbüro für viel Geld im Auftrag der Nordstaaten. Nach dem Krieg, zur Zeit der Wirtschaftskrise in den 1870er Jahren, arbeitete es für die großen Kohle- und Eisenbahngesellschaften. Pinkertons Leute schlichen sich unter falschem Namen in die Gewerkschaften der Bergarbeiter ein und provozierten ihre Anführer zu gesetzwidrigen Handlungen. Wenn ihnen das einmal nicht gelang, begingen sie selbst Morde und legten Brände. Anschließend traten sie als Zeugen vor Gericht auf und machten Falschaussagen. Dutzende von Leuten wurden durch ihre Schuld zum Tod durch Erhängen verurteilt.
    Als die Aktivitäten des Detektivbüros publik wurden, sank die Zahl der Kunden. Nur wenige wollten die Dienste von Mördern und Provokateuren in Anspruch nehmen. Umseinen guten Ruf wiederherzustellen, organisierte Allan Pinkerton einen literarischen Werbefeldzug. Zuerst publizierte er Broschüren mit den spannenden, frei erfundenen Erinnerungen von Mitarbeitern des Detektivbüros, später tauchte der legendäre Nat Pinkerton auf, der Held einer Krimiserie. Die billigen Geschichten über den Superdetektiv wurden von namenlosen hungrigen Studenten und Reportern geschrieben. Für sie war es ein Zubrot, für das nimmermüde Detektivbüro, das seine Ermittlungstätigkeit auch nach dem Tod seines Gründers fortsetzte, eine hervorragende Reklame.
    Borodin liebte es, sich in die Geschichte zu vertiefen. Man brauchte ihm gegenüber nur irgendeinen bekannten, legendenumwobenen Namen zu nennen, und sogleich überschüttete er seinen Gesprächspartner mit Unmengen von minuziösen Einzelheiten. Doch erzählte er alles mit so leiser und monotoner Stimme, daß nur wenige ihm zuhörten.
    Als Borodin jetzt über der noch dünnen, uninteressanten Akte zur Mordsache Butejko saß, dachte er, daß eine allzu große Anzahl offensichtlicher Tatsachen sich manchmal auch als Legende erweisen kann.
    Anissimow, Alexander Jakowlewitsch, geboren 1970 in Moskau. Verheiratet, ein Kind von neun Monaten. Beruf Unternehmer. Universitätsabschluß. Keine Vorstrafen. Die Mutter des Ermordeten hatte ausgesagt, Anissimow habe im Juli dieses Jahres ihrem Sohn dreitausend Dollar geliehen. Vor einer Woche hatte Anissimow das Geld zurückverlangt, und zwar in sehr scharfer Form, zuerst telefonisch. Was genau Anissimow gesagt hatte, war nicht bekannt. Daß es ein scharfer Wortwechsel war, bezeugte die Mutter des Ermordeten. Von ihr wußte man auch, daß Anissimow zwei Tage darauf bei ihnen zu Hause war, wieder hartnäckig sein Geld zurückgefordert, Butejko angebrüllt und offen bedroht hatte.
    Außer Jelena Petrowna, der Mutter, gab es vorläufig keineweiteren Zeugen. Der Vater des Ermordeten lag mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus, die Ärzte erlaubten nicht, ihn zu verhören. Jelena Petrowna hatte keinen Zweifel daran, daß Anissimow ihren Sohn ermordet hatte. Niemand zweifelte daran. Anissimow besaß eine Pistole der Marke Walter. Er hatte sich betrunken, war nachts ins Haus eingedrungen, hatte seinem Opfer aus unmittelbarer Nähe in die Schläfe geschossen und war dann direkt am Tatort eingeschlafen. Die Pistole, aus der der Schuß abgegeben wurde, lag nur wenige Meter von dem schlafenden Mörder entfernt.
    Eine Mordwaffe, ein Motiv, Drohungen. Schwerwiegende, kaum zu widerlegende Beweise.
    »Und trotzdem, und trotzdem …«, brummte Borodin vor sich hin.
    Warum hatte niemand den Schuß gehört? Es war Nacht gewesen, hatte keine anderen Geräusche gegeben. Die

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