Russische Orchidee
geschafft und wäre auf den gefliesten Boden gefallen. Natascha konnte ihn gerade noch festhalten. Für einen Moment war er ruhig, dann schob er schmollend die Unterlippe vor, holte tief Luft, kniff die Augen zusammen, und gleich darauf übertönte sein gellendes Schreien Sanjas hastiges Geschnatter, die lauten Rufe der Milizionäre und das Schnarchen der Penner.
Natascha wurde untergefaßt und auf die Straße geführt. Sie leistete keinen Widerstand, drehte sich aber immer wieder um und schaute zu ihrem Mann zurück. Sein an das Käfiggitter gedrücktes Gesicht war blaß und mit dunklen Bartstoppeln bedeckt. In dieser einen Nacht war Sanja um zehn Jahre gealtert und hatte sich so verändert, daß er ihr fast fremd vorkam. Sie bemühte sich, seine letzten Worte zu verstehen, sah, wie sich seine Lippen bewegten, konnte aber nichts hören.
Auf der Straße beruhigte sich Dimytsch. Das einzige, was ihn jetzt noch erregte, war der Geruch der Milch. Die Brust seiner Mutter befand sich direkt vor seiner Nase. Er rieb sein Köpfchen an ihrem Pullover und quäkte ärgerlich, um sie zu erinnern, daß es Essenszeit war. Natascha sprang in den Trolleybus und setzte sich auf einen der vorderen Sitze.
Zuallererst mußte sie wieder zu sich kommen und sich genau merken, was Sanja ihr eingeschärft hatte.
Bei uns zu Hause ist in den letzten Tagen niemand gewesen, dachte sie, schaute aus dem Busfenster und streichelte Dimytsch über den Kopf. Vor einer Woche war Olga mal kurz zu Besuch. Vorgestern war Mama da und hat auf Dimytsch aufgepaßt, während ich beim Zahnarzt war. Vielleicht ist in diesen drei Stunden jemand gekommen, und Mama hat vergessen, mir Bescheid zu sagen …
Sie war ganz in Gedanken versunken und bemerkte nicht, wie eine ältere Frau in einem Mantel mit Persianerkragen und mit knallrot geschminkten Wangen sich schwer auf den Platz neben ihr fallen ließ.
»Ach, du armer Kleiner, wie unbequem mußt du in diesem Tuch sitzen! Wenn du mal groß bist, bekommst du O-Beine und einen krummen Rücken. Was hast du nur für eine böse, böse Mutti!«
»Hören Sie auf, solchen Unsinn zu reden!« zischte Natascha sie erbost an.
»Und Manieren hat sie auch keine!« fuhr die Frau erfreut fort. »Aus Moskau ausweisen sollte man solche wie dich! Was haben solche Leute hier zu suchen, die sich in der Öffentlichkeit nicht benehmen können! Ja, Kinder könnt ihr kriegen, aber dann quält ihr sie, schleppt sie wie junge Hunde in Beuteln durch die Gegend und beleidigt auch noch ältere Menschen!« Sie wurde immer lauter, um die anderen Fahrgäste aufmerksam zu machen. »Solchen verantwortungslosenDingern gehören die Kinder weggenommen. Guckt sie doch an, sie ist ja noch minderjährig. Wie kann man der ein kleines Kind anvertrauen!«
Niemand beachtete die Frau. Das brachte die selbsternannte Sittenwächterin erst recht in Wallung.
»Sie gibt dem Kind nichts zu essen, läßt es verhungern, ich sehe ja, wie seine Äuglein glänzen, es hat Hunger! Warte, mein Kleiner, sofort …«
Bevor Natascha wußte, was geschah, hatte Dimytsch auch schon einen Schokoriegel in der Hand und steckte ihn sich, ohne zu zögern, samt Verpackung in den Mund.
Natascha riß ihm die Schokolade weg und warf sie der Frau auf den Schoß. Dimytsch protestierte laut, griff nach der Schokolade und fiel dabei fast aus dem Tragetuch. Natascha setzte ihn wieder zurecht, zog die Riemen des Tuchs auf der Schulter gerade, stand auf und sagte ruhig: »Lassen Sie mich bitte durch!«
Das war der Augenblick, auf den die Frau gewartet hatte. Sie blieb wie angewachsen auf ihrem Platz sitzen, so daß Natascha sich an ihr vorbeizwängen mußte und mit Dimytsch fast in den Gang gestürzt wäre. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich an einem Haltegriff festklammern. Der Trolleybus bremste scharf. Natascha sprang mit dem laut weinenden Dimytsch aus der vorderen Tür. Alle starrten der jungen Mutter mit dem Kind im Tragetuch neugierig nach. Die Frau schimpfte ihr noch durch die Fensterscheibe hinterher. Natascha zitterte wie im Fieber. Ihre innere Ruhe war durch die idiotische Boshaftigkeit dieser fremden Frau wie weggeblasen. Sie fühlte sich hilflos, vollkommen allein und unverdientermaßen beleidigt. Dimytsch schluchzte immer noch. Fußgänger drehten sich nach ihnen um.
Es war glatt und sehr kalt. Nach der schlaflosen Nacht fror Natascha besonders heftig, zudem war ihr die Milch ausder Brust geflossen und hatte den Pullover durchnäßt. Bis nach Hause mußte sie noch
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