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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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zwei Busstationen laufen.
    »Nicht weinen, mein Kleiner, bitte nicht weinen«, murmelte sie und ging vorsichtig die vereiste Straße entlang, »sonst fange ich gleich auch noch an. Und was hast du von einer heulenden Mutter? Wir beruhigen uns jetzt beide und unterhalten uns einfach ein bißchen.«
    Dimytsch liefen noch Tränen über die Wangen, aber er lächelte schon wieder.
    »Siehst du, mein Schätzchen, bald sind wir zu Hause, dann bekommst du was zu essen, alles wird gut. Alles wird ganz wunderbar.«
    Sie merkte, wie ihre Stimme zitterte, wie wenig überzeugend ihr Gemurmel klang. Dimytsch hörte auf zu lächeln und stimmte erneut sein lautes Gebrüll an. Ihre Unsicherheit hatte sich auf ihn übertragen, er konnte sich nicht beruhigen und zappelte im Tragetuch herum. Ein paarmal wäre sie auf der glatten Straße fast hingefallen.
    Gib nicht auf, denk nach, finde einen Ausweg, hämmerte sie sich ein. Nur du kannst Sanja helfen.
    Die Nacht war schrecklich gewesen, sie hatte kein Auge zugetan und war weinend durch die Wohnung gelaufen.
    Nach dem seltsamen nächtlichen Telefonat war Sanjas Handy plötzlich ausgeschaltet worden. Sie begriff sofort, daß ihrem Mann etwas Schreckliches zugestoßen sein mußte. Er hatte gesprochen wie ein Betrunkener und kaum artikulieren können. Aber sie wußte, daß Sanja sich niemals betrank, schon gar nicht bis zur Bewußtlosigkeit. Sein Körper reagierte vernünftig. Wenn er zu viel trank, mußte er sich übergeben. Danach war ihm zwar schlecht und er hatte Kopfschmerzen, aber er konnte noch völlig klar denken und hatte sich unter Kontrolle.
    Als sie mit ihm telefoniert hatte, war in der Nähe Hundegebellund der Aufschrei einer Frau zu hören gewesen. Natascha hatte deutlich die Worte verstanden: »Zu Hilfe! O mein Gott, so viel Blut!« Sie war sich fast sicher gewesen, daß Sanjas Blut gemeint war. Sie sah ihren Mann vor sich, wie er halb bewußtlos irgendwo in einer Blutlache lag, und vor Entsetzen blieb ihr die Luft weg.
    Der schlichte, vernünftige Gedanke, daß sie handeln müsse, statt zu heulen, gab ihr wieder Kraft. Sie setzte sich ans Telefon und fand ziemlich rasch heraus, daß ihr Mann von der Miliz festgenommen worden war, unter Mordverdacht stand und sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf dem Bezirksrevier befand. Das mitleidige Mädchen von der Auskunft des Innenministeriums nannte ihr sogar die Nummer des Reviers.
    Als Natascha dann ihren Mann erblickte, beruhigte sie sich ein wenig. Er schrie irgend etwas Ungereimtes, aber es war ja auch nicht weiter verwunderlich, daß ein Mensch unter solchen Umständen den Kopf verlor. Natürlich hatte Sanja niemanden ermordet, das war vollkommen undenkbar. Hauptsache, er geriet jetzt nicht in Panik, sondern erinnerte sich wieder an das, was tatsächlich geschehen war. Hatte man ihn in eine Falle gelockt? Aber das war Blödsinn, wer hätte das tun sollen? Sobald der Schock vorüber war, würde sich alles aufklären.
    Sie sagte sich selber viel Richtiges und Vernünftiges, doch mit jedem Schritt über die vereiste Straße spürte sie, wie die Worte ihren Sinn verloren. Nichts blieb außer einem eisigen, feindseligen Chaos.

Kapitel 4
    Pawel Wladimirowitsch Malzew war mit seinen dreiundfünfzig Jahren zum ersten Mal in Montreal und bedauerte sehr, daß er weder die Zeit noch die Kraft hatte, sich die Stadt inRuhe anzusehen. Der Zweck seiner Reise war nämlich keineswegs »Tourismus«, wie er in den umfangreichen Fragebogen geschrieben hatte, den er bei der Einreise nach Kanada hatte ausfüllen müssen.
    Genaugenommen war der Zweck seiner Reise ein völlig verrücktes, jungenhaftes Abenteuer, das leicht übel ausgehen konnte – sowohl für Pawel Malzew, den promovierten Kunsthistoriker, wie auch für seinen älteren Bruder Dmitri Malzew, den stellvertretenden Finanzminister. Der war zwar in Moskau geblieben, riskierte aber ebensoviel.
    Immer mehr Leute wurden in den Strudel dieses Abenteuers hineingerissen, und dadurch erhöhte sich das Risiko. Pawel Malzew wurde assistiert von einem Mann, der aussah wie Superman, aber eine dunkle Vergangenheit hatte und ein ziemlich gefährliches Schlitzohr war. Der Name dieses bezahlten Helfers lautete Anatoli Grigorjewitsch Krassawtschenko.
    Gleich bei der ersten Begegnung hatte er einen starken Eindruck auf Pawel Malzew gemacht. Er ließ die Muskeln spielen, warf mit medizinischen Fachbegriffen und Anekdoten aus dem Leben der russischen Diplomaten im Ausland nur so um sich. Man spürte, er

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