Russische Orchidee
einer kaputten Bank,zusammengekauert wie ein verfrorener Spatz, und auf dem Sportplatz trainierte ein etwa sechzehnjähriger Junge gerade mit seinem Hund, einem dicken, trägen Boxer.
Die karge Wintersonne verbarg sich, und sofort wurde es merklich kälter. Die Frau sprang von ihrer Hühnerstange herunter und schob den Kinderwagen zum Haus, zu ebenjenem, in dem der Mord passiert war. Iwan folgte ihr kurz entschlossen.
»Guten Tag.« Er stellte sich vor und zeigte ihr seinen Ausweis. »Wohnen Sie in diesem Haus?«
»Ja, wieso? Fragen Sie wegen des Mordes?« Ihr Gesicht belebte sich augenblicklich.
»Genau, wegen des Mordes«, nickte Iwan freudig. »Sagen Sie bitte, haben Sie in der betreffenden Nacht einen Schuß gehört?«
Die Frau zuckte die Achseln, überlegte eine Sekunde und sagte dann langsam: »Wissen Sie, ich wohne ja zufällig im Erdgeschoß, meine Tür ist gegenüber dem Lift. Bei uns in der Wohnung kann man ausgezeichnet hören, was im Treppenhaus passiert. Diesen Mann hat man ungefähr um zwei Uhr nachts erschossen?«
»Ein Uhr fünfundvierzig.«
»Ja, um diese Zeit war ich im Badezimmer, aber das Wasser hatte ich nicht angestellt. Ich habe irgendein Gepolter gehört, ständig schlug die Haustür, wir haben hier so eine schwere Stahltür, die man durch das ganze Haus hört, sogar wenn man sie festhält.«
»Die Tür ist mehrere Male zugeschlagen?« Der Hauptmann stutzte. »Genauer können Sie sich nicht erinnern?«
»Ich habe natürlich nicht mitgezählt.« Die Frau hob die Schultern. »Aber jedenfalls mehr als zweimal. Verstehen Sie, man hatte das Gefühl, jemand läuft dauernd hin und her. Und die ganze Nacht war ein Krach wie im Frühling. Dannwurde alles still, etwa eine halbe Stunde lang. Ich war noch nicht ins Bett gegangen, saß in der Küche und trank Tee. Na, und da fing auch schon der Lärm an, die Leiche war gefunden worden, und die Miliz kam angefahren.«
»Einen Moment, Sie sagten, ein Krach wie im Frühling. Was meinten Sie damit?«
»Böller«, erklärte die Frau. »Im Frühling lassen sie bei uns auf dem Hof jede Nacht Böller knallen. Sobald die ersten warmen Nächte kommen, stehen die Jugendlichen bis zum frühen Morgen auf dem Hof herum und amüsieren sich. Na, und Silvester natürlich auch, da böllern sie auch. Und genauso war es in dieser Nacht, plötzlich ging aus heiterem Himmel eine richtige Kanonade los, genau zwischen eins und zwei. Ich dachte noch, vielleicht feiert jemand Geburtstag oder Hochzeit. Und so kurz vor zwei habe ich das Oberlicht aufgemacht und dabei gesehen, wie jemand am Fenster vorbeilief. Mein Küchenfenster ist neben der Haustür. Der Mann ist mir aus zwei Gründen aufgefallen, erstens, weil er rannte, und zweitens, weil er ungewöhnlich breite Schultern hatte. So ein richtiger Kraftmeier mit einem Stiernacken. Ein Muskelpaket. Er lief von der Haustür bis zur Straßenecke. Sein Gesicht konnte ich natürlich nicht erkennen, ich habe ja aus dem Licht ins Dunkel geblickt, aber an die Silhouette erinnere ich mich.«
»Sie sagen, das war kurz vor zwei? Wissen Sie es vielleicht genauer?«
»Leider nicht. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.«
Der Hauptmann bedankte sich bei der Frau, setzte sich auf die Banklehne und holte seine Zigaretten heraus.
Böller – das war ja sehr interessant. In derselben Nacht, zur selben Zeit, als der Schuß ertönte, wurden im Hof Böller gezündet. Und aus dem Haus rennt ein breitschultriges Schwergewicht. Und die ganze Zeit schlägt die Tür. Es wärenicht schlecht, sich über dieses Thema noch mit ein paar anderen Leuten zu unterhalten.
Er blickte über den Hof. Menschenleer, wie zuvor. Nur der Junge mit dem dicken Boxer war noch da. Vielleicht sollte er mit ihm sprechen? Hundebesitzer führen ihre Schützlinge oft auch nachts auf die Straße.
Die Haustür klappte. Ein großes blondes Mädchen in einer hellblauen Jacke trat heraus. Der Hauptmann bemerkte, daß der Besitzer des Boxers erst wie angewurzelt stehenblieb und dann auf das Mädchen zulief.
»Lena, warte!«
Dem Jungen brach die Stimme, es klang komisch, als ob ein Hahn krähte.
»Was willst du von mir? Ich hab dir doch gesagt, laß mich in Ruhe.«
Die beiden blieben neben der Bank stehen, auf der der Hauptmann saß. Der Boxer sprang in die Höhe und versuchte, Lena übers Gesicht zu lecken.
»Bist du beleidigt?«
»Ich sag dir doch, verschwinde. Diesen Eifersuchtsquatsch kann ich nicht ab. Du gehst mir auf die Nerven.« Das Mädchen sprach ärgerlich,
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