Russische Orchidee
unserer Armee. Abwechselnd haben wirempörende Beispiele angeführt, ach und weh geschrien, uns entsetzt und tiefsinnige Schlußfolgerungen gezogen. Verabschiedet haben wir uns als die besten Freundinnen. Und jetzt kann ich mich auf die sozialen Ungerechtigkeiten nicht konzentrieren, und sie ist beleidigt …
»Entschuldigen Sie, Carrie, die Themen, die Sie ansprechen, sind sehr wichtig. Für ein solches Gespräch bin ich im Moment zu müde. Verschieben wir es lieber auf morgen.«
»Morgen ist der Tag schon brechend voll. Und ich muß mit Ihnen noch über so vieles reden. Zugegeben, meine Hartnäckigkeit ist nicht uneigennützig. Ich bereite einen großen Artikel für den ›New Yorker‹ vor, eine Analyse der Situation der Frauen im heutigen Rußland. Jane hat mir sehr viel Material geliefert, aber sie ist Amerikanerin und sieht die russischen Verhältnisse von außen. Mir ist es wichtig, auch mit Ihnen als Russin und Expertin zu sprechen. Ich brauche nicht länger als eine Viertelstunde. Sind Sie einverstanden?«
»Das geht in Ordnung, Carrie.«
»Vor allem wollte ich mich mit Ihnen über die berüchtigte russische Langmut unterhalten. Wenn man sie als einen nationalen Charakterzug anführt, eine Besonderheit der russischen Mentalität, möchte ich immer hinzufügen, daß es sich um einen nationalen und gleichzeitig geschlechtsspezifischen Zug handelt. Eure in der orthodoxen Ideologie erzogenen Frauen sind gehorsam wie Haustiere und lassen sich betatschen und taxieren wie Schafe auf dem Markt.«
»Zum Teil haben Sie recht«, sagte Lisa mit gleichgültigem Nicken, »aber was hat die Orthodoxie damit zu tun?«
»Unter Orthodoxie verstehe ich sowohl die Lehren des Kommunismus als auch die der orthodoxen Kirche, für mich sind das nur zwei Seiten einer Medaille.«
»Lieber Himmel, was für ein Stuß«, murmelte Lisa auf russisch.
»Was haben Sie gesagt?« Die Dame fuhr hoch. »Entschuldigung, Lisa, ich verstehe kein Russisch.« Sie verzog den Mund zu einem liebenswürdigen Lächeln, einem Lächeln, das an Diätpralinen und fettarme Sahne erinnerte. »Offenbar sind Sie anderer Meinung?«
»So ist es.« Lisa trank endlich ihren Kaffee und drückte mit einer schnellen Handbewegung ihre Zigarette im Aschenbecher aus. »Die Orthodoxie des russischen Kommunismus hat nicht das geringste mit der kirchlichen Orthodoxie zu tun. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge.«
»Sagen Sie das nicht. 1918 haben die Würdenträger der orthodoxen Kirche bereitwillig vor den bolschewistischen Machthabern gekuscht. Das ist eine historische Tatsache. Einerseits gab es Massenerschießungen von Priestern, Mönchen, Barmherzigen Schwestern, Vandalismus, Zerstörung der Kirchenschätze, andererseits arbeitete die Kirche mit den Henkern zusammen. Ihr Russen seid immer und in allem bis an die Grenze gegangen, besonders, wenn es um die Verwirklichung philosophischer Ideen ging. Darüber haben eure genialen christlichen Philosophen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben, Solowjow, Berdjajew. ›Die russische Seele ist immer unbefreit geblieben, sie erkennt keine Grenzen an, sie will alles oder nichts.‹ Darin liegt eure Kraft, aber auch eure unheilvolle Schwäche. Sind Sie nicht derselben Meinung?«
»Sprechen Sie von Ihrer Meinung oder von der Berdjajews?« fragte Lisa mechanisch und dachte, daß die Amerikanerin wohl eher ihre eigene Meinung zum Ausdruck bringen als eine fremde hören wollte. Na schön, warum auch nicht. Aber zu einer eigenen Meinung fehlte Lisa im Moment einfach die Kraft.
»Sowohl als auch. Ich würde überhaupt gern einmal wissen, Lisa, wie aktuell die russische Philosophie vom Anfangdes Jahrhunderts heute für den gebildeten Teil der Gesellschaft ist. Dort findet man ja vieles schon sehr treffend formuliert. Ist dieses wertvolle Erbe etwa in eurem heutigen flachen Pragmatismus untergegangen?«
Wenn der Pragmatismus flach ist, wie kann dann in ihm etwas untergehen? dachte Lisa träge.
Sie klopfte sich, ohne den Blick von der Vitrine des Souvenirshops zu wenden, eine neue Zigarette aus der Schachtel und knipste ihr Feuerzeug an. Die Amerikanerin wartete auf Antwort und verzog das Gesicht – der Rauch störte sie. Eine unangenehme Pause trat ein.
»Lisa, ist mit Ihnen alles in Ordnung? Sie rauchen viel zuviel. Deshalb sind Sie auch so blaß und zerstreut.«
»Ich fürchte, der Grund ist ein ganz anderer«, dröhnte eine Baßstimme neben ihnen. »Frau Beljajewa ist verliebt. So sehen verliebte Frauen
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