Russische Orchidee
Pressesekretär vorsorglich mit gelbem Marker für ihn hervorgehoben hatte. Warja trank langsam ihren Orangensaft und schaute aus dem Fenster. Morgen würde sie wohl zusammen mit ihm um sieben Uhr aufstehen, die Turnschuhe anziehen und fünf Kilometer joggen müssen. Lust dazu hatte sie überhaupt keine.
»Welche Pläne hast du für heute?« fragte er, ohne den Blick von der Zeitung zu heben.
»Um zwei muß ich in die Uni, dann will ich kurz zu Mama fahren.«
»Wie geht es ihr?«
»Normal.«
»Und was macht dein Studium?«
»Alles in Ordnung.«
»Gut. Ich muß jetzt los.« Dmitri legte die Zeitung beiseite, stand auf und trank rasch seinen grünen Tee aus. »Gehen wir, du kannst mich hinausbegleiten.«
Als sich das Stahltor hinter seinem gepanzerten Jeep geschlossen hatte, seufzte Warja erleichtert auf, kehrte ins Haus zurück, zündete sich eine Zigarette an und setzte sich mit hochgezogenen Beinen in den Sessel. Wenn man doch den ganzen Tag so sitzen bleiben könnte, niemals das warme, schöne Wohnzimmer verlassen müßte und niemanden zu sehen und zu hören brauchte! In der letzten Zeit befiel sie immer öfter eine seltsame Erstarrung, sie mochte sich nicht mehr bewegen, nicht mehr unterhalten, stundenlang konnte sie reglos wie eine Puppe dasitzen.
Einmal hatte Malzew sie überraschend in diesem Zustandangetroffen, hatte das Entsetzen bemerkt, mit dem sie in die eisige Tiefe des Bassins gestarrt hatte. Das hatte ihn so erschreckt, daß er sie fragte, ob sie gesund sei.
»Mit mir ist alles in Ordnung. Ich bin völlig gesund«, erwiderte sie und zwang sich zu lächeln, »ich habe nur gestern einen Horrorfilm gesehen, in dem Leichen aus einem Schwimmbecken kletterten.«
»Sieh dir bloß solchen Blödsinn nicht an. Du bist doch schon ein großes Mädchen.«
In Wirklichkeit hatten Horrorfilme auf sie eine beruhigende Wirkung. Sie halfen ihr, sich selber etwas vorzumachen und sich einzureden, daß alles, was sie vor vier Jahren erlebt hatte, nur ein Film gewesen war, in dem sie die Hauptrolle gespielt hatte. Sie hatte immer davon geträumt, Filmschauspielerin zu werden. Besonders damals, mit siebzehn Jahren.
Nach dem Abschluß der Schule wollte sie sich am Filminstitut für ein Schauspielstudium einschreiben. Es war Mitte März, nach einer langen Kälteperiode war es endlich wieder etwas wärmer geworden, die ersten Strahlen der Frühlingssonne lugten hervor. Sie fuhr zu einem Einkaufsbummel ins Zentrum und erstand im Kaufhaus »Detski Mir« ganz billig sehr hübsche tschechische Sandaletten mit niedrigen, bequemen Absätzen.
Sie war in glänzender Laune, lächelte sich selber in dem riesigen Spiegel zwischen den Glastüren des Kaufhauses zu und fing dabei einen so entzückten Männerblick auf, daß sie gleich noch einmal lächelte, diesmal nicht für sich selbst, sondern für den schlanken, kultiviert wirkenden brünetten Mann mit Schnurrbart.
Warum war damals, vor vier Jahren, kein Engel über den Kusnezki Most, über den Lubjanka-Platz, über die bunte gleichgültige Menge geflogen und hatte sie beschützt?
»Möchten Sie noch ein Eis, Warja?«
»Nein, danke, es reicht. Von Eis wird man dick.«
»Das stimmt, wenn Sie Schauspielerin werden wollen, müssen Sie auf Ihre Figur achten. Im übrigen haben Sie aber alle Voraussetzungen dafür. Lösen Sie doch mal Ihr Haar.«
Sie öffnete gehorsam die Spange und schüttelte ihr Haar. Sein aufmerksamer, tastender Blick machte sie nicht im geringsten verlegen. Schließlich war er ein Profi, ein Filmregisseur. Er hatte sie gesehen, aus der Menge ausgewählt und ihr die Hauptrolle in einer russisch-französischen Coproduktion angeboten.
Sie bemühte sich nach Kräften, ihm zu gefallen, sie lächelte, damit er sah, was für schöne weiße Zähne sie hatte, sie lachte und warf den Kopf zurück, damit ihm auffiel, was für einen langen zarten Hals sie hatte, einen richtigen Schwanenhals.
»Die Dreharbeiten werden in Paris und Rom sein. Haben Sie einen Auslandspaß?«
»Nein.«
»Na, das ist weiter kein Problem. Die Franzosen erledigen alles Organisatorische, sie werden Ihnen bestimmt schnell einen Paß besorgen. Das wichtigste ist, daß Sie den Wettbewerb gewinnen. Anwärterinnen auf die Rolle gibt es sehr viele.«
»Und was ist das für ein Wettbewerb? Was muß ich tun?«
»Das Übliche. Standfotos, dann Probeaufnahmen, dann eine Probe in der Rolle. Tun müssen Sie gar nichts, nur möglichst ungezwungen sein. Wie schon der große Stanislawski sagte, der
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