Russische Orchidee
Lockerheit überzeugen. Er bot mir Champagner an, zur Entspannung und damit ich meine Komplexe verlieren sollte. Das Glas brachte mir diese Frau. Der Geschmack kam mir merkwürdig vor.«
Dann war ihr, als bliebe die Zeit stehen. Als sie ein wenig zu sich kam, versuchte sie aufzustehen, aber man flößte ihr sofort wieder irgendein Gebräu ein. Sie wußte nicht, wie lange sie sich schon in dieser stinkenden Wohnung, in diesem Bett mit der zerknitterten, feuchten Bettwäsche befand, einige Stunden oder einige Tage. Irgendwann merkte sie, daß es ihr gleichgültig war, und sie erschrak. Wenn ihr schon alles egal war, bedeutete das, sie würde bald sterben. Sie hatte noch genug Kraft, um zu begreifen, daß sie die bittere Mixtur, die ihr die taubstumme Frau verabreichte, nicht trinken durfte. Sie tat nur so, als tränke sie, und schüttete den Inhalt des Glases in den Spalt zwischen Bett und Zimmerwand.
Langsam wurde ihr Kopf wieder klar, aber sie fühlte sich immer noch schrecklich schwach. Am meisten fürchtete sie, daß dieser Wahnsinnige oder seine Freundin bemerken könnten, daß sie wieder zu sich kam, und so täuschte sie eine Ohnmacht vor. Man hüllte sie in irgendwelche Lumpen und führte sie auf die Straße.
Es war ein früher, kalter Morgen. Der Irre schleppte sie durch menschenleere Höfe und Durchgänge. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, ihr war schwindlig, aber sie bemühte sich mit aller Kraft, sich den Weg zu merken. Nach etwa zwanzig Minuten erreichten sie eine Bahnstation. Warja versuchte den Namen der Station zu entziffern, aber die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.
Die Vorortbahn kam. Der Irre zog Warja in einen leeren Wagen, stieß sie auf die Bank, setzte ihr den Hals einer flachen Kognakflasche an die Lippen und versuchte ihr etwas Weißes, Zähflüssiges, ähnlich wie Kefir, einzuflößen, aber sie wehrte sich. Als die Durchsage kam, daß die Türen sich schließen, stürzte er zum Ausgang. Die Flasche blieb auf Warjas Schoß liegen. Warja begriff noch, daß sie sie aufrecht neben sich auf die Bank stellen mußte, damit die Flüssigkeit nicht auslief, und verlor dann das Bewußtsein.
Später stellte sich heraus, daß der Irre zum Abschied für sie einen Cocktail aus achtzig verschiedenen Tabletten zubereitet hatte. Die Psychopharmaka und Schlafmittel waren der schwachsinnigen kleinen Raissa von den Ärzten der Bezirksgesundheitsfürsorge in großer Menge verschrieben worden.
Zu Bewußtsein kam sie, weil jemand sie an der Schulter rüttelte.
»He, Mädel, bist du schon morgens zu? Zeig deine Fahrkarte vor!«
Auf dem Milizrevier der Bahnstation »Okrushnaja«, wohin die beiden kräftigen Kontrolleure sie halb zogen, halb trugen, sah sie zum ersten Mal wieder ihr Spiegelbild. In der schmutzigen Toilette hing über dem Waschbecken ein zersprungener, trüber Spiegel, und daraus blickte Warja eine betrunkene, irre Pennerin an, die aussah wie mindestens vierzig. Erst nach ein paar Augenblicken merkte sie, daß ihregoldenen Ohrringe mit den Türkisen fehlten und auch der Ring mit dem dazu passenden Türkis nicht mehr an ihrem Finger steckte. Ebenfalls verschwunden war ihr goldenes Taufkreuzchen. Anstelle von Jacke, Jeans und Pullover trug sie einen schmierigen, zerrissenen Mantel, den man ihr direkt auf den nackten Körper gezogen hatte, anstelle der modischen Lederpumps löchrige Überschuhe aus Filz.
Ein Krankenwagen brachte sie von der Miliz in die Klinik, dort kam ihre Mutter zu ihr, und dort tauchte auch zum ersten Mal der kleine, rundliche Untersuchungsführer Ilja Nikititsch Borodin auf.
Sobald die Ärzte ihr erlaubten aufzustehen, führte sie die Einsatzbeamten zu der stinkenden Wohnung in dem fünfstöckigen Plattenbau. Alle drei Mieter waren zu Hause und wurden festgenommen. Außer ihnen befanden sich noch zwei Mädchen im Alter von fünfzehn und siebzehn Jahren in der Wohnung, beide in bewußtlosem Zustand.
Die Untersuchung war rasch abgeschlossen. Der Sexualverbrecher, der nicht Garik, sondern Rafik Tenajan hieß, legte ein umfassendes Geständnis ab und gab fünf Morde und sieben brutale Vergewaltigungen zu. Die Mehrzahl seiner Opfer waren Minderjährige. Drei hatte er erwürgt, zwei waren an einer Überdosis von Psychopharmaka und Schlafmitteln gestorben. Später, als der Fall schon dem Gericht übergeben worden war, starben auch die beiden Mädchen, die man in der Wohnung entdeckt hatte, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.
Warja trat im Prozeß auf und
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