Russische Orchidee
sagte als Zeugin aus. Der Anwalt hielt eine flammende Rede, in der er wiederholt betonte, daß ausnahmslos alle Mädchen freiwillig in die Wohnung mitgekommen wären, daß jede die Chance gehabt hätte zu gehen. Alle seien bereit gewesen, sich nackt fotografieren zu lassen. Der Anwalt sprach so feurig undüberzeugend, daß es Warja für einen Moment so schien, als hätten die Opfer mehr Schuld als der Täter. Und alle im Saal sahen sie plötzlich mit ganz anderen Blicken an. Das Mitleid in ihren Augen wich kalter Neugier.
»Sie sind also freiwillig, ohne genötigt worden zu sein, in eine unbekannte Wohnung gegangen, zusammen mit einem Mann, den Sie noch nicht einmal eine Stunde lang kannten?« fragte die einschmeichelnde, hohe Stimme.
»Ja«, erwiderte Warja ruhig.
»Und auf Tenajans Bitte hin haben Sie sich ausgezogen?« »Ja.«
Sie bemühte sich, nicht zu dem Käfig zu schauen, in dem Tenajan saß und spöttisch grinste.
Als das Urteil verkündet wurde, nur fünfzehn Jahre statt der erwarteten Todesstrafe, ging ein erstauntes Raunen durch den Saal. Warja stand auf und lief nach draußen.
Ein paar Tage nach dem Prozeß sprang aus dem Gebüsch auf dem Hof vor ihrem Haus ein junger Bursche mit langen fettigen Haaren und in einer grünen Lederjacke hervor. Neben ihm tauchte ein Kameramann auf, und Warja wurden Kamera und Mikrofon fast ins Gesicht gestoßen.
»Sagen Sie, war Rafik Tenajan Ihr erster Mann? Was haben Sie empfunden, als er sie entjungfert hat? Sie sind doch freiwillig mit in seine Wohnung gegangen, haben sich ausgezogen und mit ihm ins Bett gelegt?«
Sie begann zu schreien und rannte weg, ihr schien, als verlöre sie den Verstand und die Welt bestünde aus lauter Ungeheuern, bösartigen, dreisten Ungeheuern. Noch lange hatte sie das Gefühl, der Journalist und der Kameramann würden sie verfolgen. Später, als sie durch die Straßen ging, glaubte sie, alle würden sie anstarren, alle wüßten, daß sie sich freiwillig in der stinkenden Wohnung des Verbrechers ausgezogen hatte.
Ziellos irrte sie durch die Stadt, ohne Gefühl für die Zeit, die Kälte und den nassen Schnee. In irgendeinem unbekannten Bezirk, am Ufer der Moskwa, kam sie wieder zu sich. Es begann schon zu dämmern, der Schnee fiel immer dichter, wie eine geschlossene Wand. Warja blieb stehen und blickte in das schwarze Wasser hinunter. Auf der Oberfläche schwammen langsam schmutzige, dünne Eisschollen. Je länger sie hinunterschaute, desto ruhiger und langsamer schlug ihr Herz. Sie sah sich um und erblickte eine Treppe, die direkt zum Wasser führte. Es genügte, einfach hinunterzusteigen und ins Wasser zu gehen. Das war ganz einfach und gar nicht schrecklich. Erst als die eisige, bleierne Masse ihren Körper zusammenpreßte und die Kälte sie wie ein Schwarm von tausend Piranhas anfiel, erschrak sie wirklich, und zum ersten Mal im Leben wünschte sie sich verzweifelt zu leben …
Vier Jahre später, es war erst zehn Tage her, schaltete sie eines Nachts den Fernseher an. Lange betrachtete sie den forschen Moderator der Late-Night-Show. Er hatte sich stark verändert. Die Haare waren kurz geschnitten, er war dicker geworden. Aber seine Augen waren dieselben geblieben, trüb, tot, wie das schmutzige Eis auf der Moskwa. Vielleicht war er es auch gar nicht. Sein Gesicht war so nichtssagend, man hätte es zwanzigmal sehen und sich doch nicht merken, nicht wiedererkennen können.
»Was guckst du dir denn für einen Mist an, Warja?« wunderte sich Dmitri, der zufällig ins Wohnzimmer schaute.
»Weißt du nicht, wer das ist?« fragte sie, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden.
»Keine Ahnung. Irgend so ein Schmutzfink von der Klatsch-und-Tratsch-Journaille.« Er streckte die Hand zur Fernbedienung aus, aber einen Moment bevor derBildschirm erlosch, tauchte der Abspann der Sendung auf, und Warja konnte noch die erste Zeile lesen: »Moderation – Artjom Butejko«.
Kapitel 19
Lisa erwachte vom hartnäckigen Klingeln des Telefons. Ohne die Augen zu öffnen, streckte sie die Hand aus. Das Telefon im Hotelzimmer stand auf dem Nachttisch. Aber ihre Hand griff ins Leere.
Ihr Kopf schmerzte zum Zerspringen, und das Telefon schrillte immer weiter. Lisa merkte, daß sie quer über dem Bett lag, im T-Shirt. Die Bettdecke war zerknüllt, die Kissen auseinandergeworfen, der Überwurf lag auf dem Fußboden, daneben ihre Jeans. Draußen war es hell, die Uhr zeigte elf.
»Guten Tag, Frau Beljajewa, ist mit Ihnen alles in Ordnung?« vernahm
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