Russische Orchidee
was soll ich denn eigentlich anzeigen? Wie kann ich beweisen, was ich selber nicht weiß? Außerdem ist er heute bestimmt schon nicht mehr im Hotel.
Sie öffnete die Minibar. Dort lag die Weinkarte. Eine Flasche fehlte, der weiße Rheinwein.
Im Konferenzsaal war immer noch der Brunch im Gange, die Pause mit Imbiß. Tabletts mit belegten Broten, Salaten und Obst wurden aus dem Restaurant in den Saal getragen. Lisa beschloß, es könne nicht schaden, erst einmal einen Kaffee zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen. Ein Ordner kam auf sie zugestürzt und händigte ihr eine dünne Plastikmappe mit Papieren aus.
»Bitte sehr, Frau Beljajewa, die Unterlagen für die heutige Sitzung der Themengruppe.«
Es gab amerikanischen Kaffee, der aus riesigen Kaffeemaschinen eingeschenkt wurde. Lisa konnte diese Brühe nur mit viel Sahne trinken. Ihre Hände zitterten, die Mappe mit den Papieren hatte sie sich unter den Arm geklemmt, was schrecklich unbequem war. Als sie die Folie von der Kaffeesahne riß, verspritzte sie ein paar Tropfen auf ihren Rock. Sie nahm die Serviette, bückte sich, um die fettigen weißen Tropfen abzuwischen, und als sie den Kopf wieder hob, erblickte sie direkt vor sich das lächelnde Gesicht der Amerikanerin Carrie.
»Guten Tag, Lisa. Keine Sorge, diese Sahne macht keine Fettflecken. Sie ist entrahmt. Warten Sie, ich halte das für Sie.« Sie nahm Lisa die Serviette ab. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ehrlich gesagt, schlecht.« Lisa versuchte zu lächeln. »Ich habe Kopfschmerzen.«
»Ach, leiden Sie auch unter Migräne?« sagte die Amerikanerin mit mitfühlendem Nicken und legte ein paar Melonenstückchen auf ihren Teller.
»Ja, ich habe regelmäßig starke Anfälle, außerdem habeich mich bis jetzt noch nicht an die Zeitverschiebung gewöhnt. Wenn hier Nacht ist, ist in Moskau Tag.«
»Ich weiß, Sie konnten letzte Nacht nicht schlafen. Offenbar sind Sie sogar draußen spazierengegangen? Stärken Sie sich erst einmal gründlich, die nächste Pause ist erst wieder in vier Stunden. Nehmen Sie ein Sandwich mit Hühnchen, die sind heute sehr lecker.«
Trotz der zwei Analgintabletten mit Chinin tat ihr der Kopf immer noch höllisch weh. Es fiel ihr schwer, klar zu denken.
»Entschuldigen Sie, Carrie«, sagte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht, »ich verstehe nicht, wovon sprechen Sie? Was für ein Spaziergang?«
Vor dem Tisch mit den Tabletts drängten sich die Menschen. Ein älterer kleiner Inder mit einem weißen Turban stieß Lisa versehentlich mit dem Ellbogen an, sie fuhr heftig zusammen und hätte fast ihren Kaffee verschüttet. Der Inder begann sich lebhaft zu entschuldigen, verbeugte sich und legte seine kleine braune Hand auf die Brust.
»Lassen Sie uns ins Foyer gehen, aber vergessen Sie nicht, sich ein Hühnchen-Sandwich zu nehmen, sie sind wirklich hervorragend«, sagte Carrie und steuerte auf den Ausgang zu.
Lisa folgte ihr gehorsam, mit dem Sandwich-Teller und dem Kaffeebecher in der Hand. Sie schritt durch die Menge, nickte verschiedenen Leuten mechanisch zu, lächelte und dachte dabei nur daran, daß sie den Kaffee nicht verschütten und niemand merken durfte, wie stark ihr die Hände zitterten. Carrie hatte bereits einen freien Tisch im Foyer besetzt. Lisa nahm ihr gegenüber Platz.
»Sie vergessen, unsere Zimmer liegen nebeneinander. Zwischen zwei und drei Uhr heute nacht waren aus Ihrem Zimmer Geräusche und Schritte zu hören, mehrere Male wurde die Tür geöffnet und geschlossen. Ich hatte kein Schlafmittelgenommen und konnte deshalb nicht einschlafen.« Vorsichtig biß Carrie ein kleines Stück Melone ab. »Finden Sie nicht auch, daß das Obst im Winter einen ganz anderen Geschmack hat?« Ihr Gesichtsausdruck wurde zerstreut, teilnahmslos, sie starrte einige Sekunden lang ins Leere, klapperte dann plötzlich entschieden mit ihren hellen Wimpern und sagte in gedämpftem Ton: »Lisa, ich habe zufällig gesehen, wie dieser merkwürdige Mann gestern nacht aus Ihrem Zimmer gekommen ist. Ich glaube, er heißt Krassawtschik?« Das letzte Wort sprach sie gedehnt aus, als ekele sie sich davor, und aß sofort ein Stück Melone hinterher.
»Kennen Sie diesen Mann?«
»Nein. Persönlich sind wir nicht bekannt. Aber einiges über ihn ist mir zu Ohren gekommen.«
»Er ist Diplomat, Mitarbeiter beim Außenministerium.«
»Der ist so sicher ein Diplomat, wie ich Kaiser von China bin.«
»Aber Carrie, woher wollen Sie das wissen?«
»Verzeihen Sie, daß ich mich einmische, aber Sie sind
Weitere Kostenlose Bücher