Russische Orchidee
Männer.
»Ich möchte gar nichts dazu sagen«, knurrte der finster, »ich habe nicht die Angewohnheit, andere zu unterbrechen. Frau Beljajewa war noch nicht zu Ende.« Er übergab das Mikrofon an Jelisaweta Beljajewa.
»Eigentlich war ich fast zu Ende.« Sie lächelte freundlich. »Nur noch eine Frage. Im Verlaufe dieses ganzen Jahres, das Sie schon gejagt werden, hat der Mittelsmann nicht herausbekommen, daß Sie das sind?«
»Nein. Wenn ich mein Geheimnis aufdecke, wird man mich sofort umbringen. Ich sagte ja, ich kann nicht sicher sein, was morgen passiert. Verstehen Sie, das Geld ist bezahlt, die Maschinerie ist in Gang gesetzt, es sind Profis am Werk, und früher oder später wird der Auftrag ausgeführt werden. Sie kennen einfach die Gesetze der kriminellen Welt nicht.« Der Junge war sehr nervös, er sprach schnell und erregt, seine Stimme, seine Intonation, seine Gestalt kam Borodin plötzlich irgendwie bekannt vor.
»Ja, wahrscheinlich kenne ich diese Gesetze nicht«, stimmte die Beljajewa ihm zu. »Auf jeden Fall höre ich zum ersten Mal von professionellen Killern, die einen Auftrag annehmen, aber nach einem Jahr immer noch nicht begriffenhaben, wen sie umbringen sollen.« Sie lächelte und gab das Mikrofon an Butejko zurück.
Im Saal rumorte und lachte man, viele trampelten mit den Füßen und klatschten in die Hände. Die älteren Frauen, die eben noch Tränen vergossen hatten, tuschelten jetzt empört miteinander und schüttelten die Köpfe. Das Mädchen in der letzten Reihe, das sich erboten hatte, den Pechvogel bei sich zu Hause aufzunehmen, steckte vier Finger in den Mund und pfiff gellend.
»Einen Moment, meine Herrschaften«, sagte Butejko und räusperte sich, »wir haben soeben die Meinung unserer geschätzten Jelisaweta Beljajewa gehört. Aber das ist nur ihre persönliche Meinung. Setzen wir die Diskussion fort, es ist ja erst eine Expertin aufgetreten, jetzt wollen wir einen Vertreter unserer großzügigen Sponsoren befragen. Darf ich um Applaus für unseren Gast, den stellvertretenden Direktor der Bank ›Hoffnung‹, bitten.«
Aber statt Beifall zu klatschen, trampelte und pfiff man weiter. Der Repräsentant der Bank schüttelte finster den Kopf und schob das ihm hingestreckte Mikrofon beiseite.
Einige Minuten lang versuchte Butejko noch, die Sendung zu retten, stammelte hilflose, hochtrabende Phrasen über Mitgefühl ins Mikrofon und brachte damit das Publikum nur noch mehr auf. Der maskierte Gast erhob sich und huschte gekrümmt, als hätte man ihn geschlagen, zum Ausgang. Für einen Sekundenbruchteil erfaßte ihn das Auge der Kamera. Borodin versuchte, wenigstens einen Teil seines Gesichts zu erkennen, drückte auf die Standbildtaste, erblickte aber nur einen Wangenknochen und den Rand des Kinns.
»Na gut, das kann man noch klären«, murmelte er und ließ das Band weiterlaufen. Aber es gab nichts mehr zu sehen. Auf dem Bildschirm erschien der Abspann, dann folgte Werbung für die Sponsoren.
Eine rotwangige Bilderbuchfamilie, Mama, Papa, zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hüpften, sich an den Händen haltend, über das glänzende Parkett eines leeren Zimmers. In der Ecke stand die Oma, dargestellt von einer bekannten Schauspielerin, und blickte sie lächelnd an. Zu den Fernsehzuschauern gewandt, sagte sie: »Meine Kinder haben viele Jahre lang auf eine Wohnung gewartet. Die ›Hoffnung‹ hat ihnen geholfen.«
»Aber wir brauchen auch noch Möbel!« rief der kleine Junge.
»Wenn wir ›Hoffnung‹ haben, bekommen wir auch Möbel!« zwinkerte der Vater der glücklichen Familie fröhlich vom Bildschirm, faßte die Oma unter und zog sie mit in den Reigen, und alle drehten sich fröhlich lachend durchs leere Zimmer. Dann erschien das Logo der Bank, und die Stimme der Oma verkündete voller Inbrunst: »Ich bin schon eine alte Frau und habe viel erlebt, aber ich weiß: Das Wichtigste im Leben ist die Hoffnung. Die ›Hoffnung‹ wird uns nicht im Stich lassen.«
Die Aufzeichnung war zu Ende. Auf dem Bildschirm flimmerte grauweißer Schnee. Bevor er das Band weiterspulte, um zu sehen, ob noch etwas darauf war, nahm sich Borodin sein Notizbuch und suchte die Telefonnummer des Kameramanns heraus. Es war schon zwölf, aber Jegor Labuch hatte gesagt, man könne ihn bis zwei Uhr nachts anrufen.
»Guten Abend, Jegor. Hier ist Untersuchungsführer Borodin. Entschuldigen Sie den späten Anruf. Ich habe mir gerade die Aufzeichnung einer von Butejko moderierten Talkshow angesehen
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