Russisches Abendmahl
Virus, der jetzt um sein Blut herumschleicht und auf einen schwachen Moment wartet, hat er sich eingefangen, als man ihm den Arm abnahm und ihn zu einem der vielen uneingestandenen HIV-Opfer dieses Landes machte. Jetzt wird er von einem teuflischen Bedürfnis nach Virostatika beherrscht, die er sich nur gelegentlich leisten kann.
Das ist zumindest die offizielle Version. HIV wütet in den überfüllten Zellen von Russlands unmenschlichen Untersuchungsgefängnissen, den SIZOs, wo alle Verdächtigen - ob schuldig oder nicht - bis zu ihrer Verhandlung festgehalten werden, manchmal länger als ein Jahr. Der Virus greift dort ungehindert um sich, weil Kriminelle, Drogensüchtige und Homosexuelle immer als Letzte behandelt werden. Leonid war ein Jahr in Kresty, unserem größten SIZO. Dort waren sie zu zehnt in eine Zelle gepfercht und mussten in Schichten schlafen. Letztendlich opferte er Mutter Russland einen Arm, ein Auge und seine Seele, und jetzt steht er auf meiner Gehaltsliste.
Ich nippe an einem angeschlagenen Becher russischem Tee, dickflüssig wie Teer, und sehe Panzer über den unscharfen Bildschirm seines Fernsehers rollen. Die Szene findet irgendwo im Dschungel am Stadtrand von Jakarta statt, jedenfalls dem Lauftext unten im Bild zufolge. Leonid lümmelt sich in einem Sessel, der irgendwann mal weiß war. Eine volle Flasche Wodka mit einer Zeichnung des alten Moskau-Hotels steht bedarfsweise neben seinem linken Arm. Bei der schlechten Beleuchtung kann ich kaum sagen, wo das ausgeblichene Braun seines krümelübersäten T-Shirts aufhört und der schäbige Stuhl anfängt.
Lilia hat sich schön gemacht. Bevor ich den Tee auch nur halb ausgetrunken habe, hat sie sich geschminkt, falsche Wimpern aufgeklebt und Modeschmuck angelegt, und sich von einer Ehefrau von kaum wahrnehmbarer Schönheit in eine auffallende, nicht mehr ganz in der Blüte stehende Verführerin verwandelt. Sie ist hüftrunde dreißig Jahre alt. Wenn sie sich hinstellt, wölben sich kleine Diamanten abgeklemmten Fleisches zwischen den gekreuzten Schnüren ihrer Kunstlederhose. Sie stöckelt auf Stilettoabsätzen durch den Raum und kämmt dabei ihr blondiertes Haar.
Ich lasse den letzten Rest Tee über meine Zunge laufen, schlucke ihn herunter und stelle den Becher auf den zerschrammten niedrigen Tisch vor meinem Stuhl. »Was gibt es Neues, Leonid?«
Er fährt sich mit der adrigen Hand durch sein fettiges Haar und über den kurzen Pferdeschwanz im Nacken.
»Gromow hat einen Auftrag zu vergeben. Es geht um zwei Kreml-Wachen. Ihm ist egal, wie. Er will sie tot sehen.«
»Warum?«
Er zuckt mit den Schultern und schaut auf den Fernseher, als bedeuteten ihm die knisternden Bilder des Krieges mehr als der Anblick seiner Frau, die ihre vorgestreckten puderbedeckten Brüste im Spiegel begutachtet. Ihr Dekolleté erbebt, als sie ihr tief ausgeschnittenes Oberteil zurechtrückt.
»Wie viel zahlt Gromow?«, frage ich.
»Tausend Dollar pro Kopf.«
Nichts ist umsonst. Wenigstens das sollte Gromow wissen. Die Soldaten haben ihm eine schlechte Fälschung des Schah-Diamanten geliefert und jetzt schäumt er vor Rachsucht. Er hat natürlich keine Ahnung, dass er bestenfalls die etwas kunstvollere Variante bekommen hätte, die ich seinerzeit dort hinterlassen habe. Ich fühle mich für die beiden Soldaten verantwortlich. Indem ich dem General von dem Plan erzählt habe, habe ich den Diebstahl verhindert und ihnen seinen Zorn erspart, aber weil sie so gierig waren, haben sie stattdessen jetzt den wild gewordenen Gromow am Hals. Die Zeit ist gekommen, Gromows Schuldschein einzulösen.
Lilia kommt an die Seite ihres Mannes gewackelt und legt ihre zitternde Hand auf seine Schulter. Ihre Nägel sind dunkel von abgeblättertem rotem Lack. Er tut so, als bemerke er sie nicht. Er starrt auf den Bildschirm, wo eigentlich nichts zu sehen ist, außer ein paar Köpfen ohne Ton. Lilia gibt auf, lächelt matt in meine Richtung und stöckelt zur Tür hinaus.
Ich gucke so lange auf den Fernseher, bis Lilia das Haus verlassen hat. Alles andere wäre unhöflich. Gerade als ich aufstehen will, wechselt das Bild auf damastfarbene Wüste, die sich unter den Schatten der Rotoren eines Hubschraubers dahinwälzt. Im Text unter dem Kopf des Nachrichtensprechers heißt es, ein russisches Transportflugzeug vom Typ Antonov 32 sei in der iranischen Sandwüste westlich von Teheran abgestürzt. Die Zahl der Todesopfer sei bisher unklar, heißt es weiter, aber mindestens zehn Männer
Weitere Kostenlose Bücher