Russisches Abendmahl
»Aaiiihh!«, kreischt er weibisch und lässt die Tasse fallen, die auf dem Schieferboden zerspringt.
Valja tupft ihm das Gesicht mit einem Geschirrhandtuch trocken.
»Tut mir leid«, sagt er.
»Erzähl mir von den beiden Männern«, sage ich.
Seine Hände zittern zu sehr, um sich eine Zigarette anzuzünden. Valja zündet sie in ihrem Mund an, steckt sie ihm zwischen die bibbernden Lippen und lässt sein goldenes Zippo zuschnappen. Er nimmt einen Zug, bis das Papier zur Hälfte runtergebrannt ist. »Du bist mein Freund, Alexei. Ich würde nie etwas tun, was … was dir schadet. Nicht wenn ich nicht müsste.«
»Erzähl schon.«
»Bitte tu mir nicht weh, Alexei.«
»Erzähl.«
»Ich kann nicht. Sie kommen vielleicht wieder.«
»Wer?«
Sein Gesicht erinnert mich immer an schmelzendes Wachs. Jetzt fällt es vollkommen in sich zusammen, wie der Rand einer brennenden Kerze. »Sie hatten Messer, scharf wie Rasierklingen. Sie haben mir die Hose aufgeschnitten und …«
Er verliert die Kontrolle und bricht schluchzend über dem Tisch zusammen. Valja sieht mich fragend an. Ich nicke, gehe die Treppe hoch, setze mich an einen der Tische im dunklen Café und warte. Eine Stunde später kommt Valja nach und wir steigen in den Mercedes und fahren los. Vadim wird sich am nächsten Morgen um Nigel kümmern.
»Und?«
»Es waren Kamil und Tarik«, sagt sie und sieht aus dem Fenster. »Sie haben ihn mit einer Stahlstange vergewaltigt. Nur so zum Spaß, er hätte ihnen sowieso alles erzählt.«
Es scheint sie ernsthaft aufzuregen. Es ist sonst nicht ihre Art, das Offensichtliche auszusprechen. Ich warte.
»Sie haben gedroht, ihm die Genitalien abzuschneiden, wenn er dich nicht zu Orlan und Posnowa führt.«
»Wann?«
»Am Abend vor der Schießerei im National.«
Ich hatte Nigel nur wenige Stunden nach Arkadijs erstem Anruf getroffen. Was bedeutet, dass ich relativ spät im Boot war. Man hat mich von Anfang an reingelegt. Das Timing erklärt Nigels aufgelöste Reaktion auf das Gemetzel. Er nahm fälschlicherweise an, dass Maxim dahinter steckte und nicht Gromow.
»Ich habe mich gefragt, woher Maxim wusste, dass Lipman und Arkadij ein Paar waren.«
»Was bedeutet das?«, fragt sie.
Ihre großen Augen sind smaragdgrün. »Ich weiß nicht.«
Ich steuere den Mercedes in Richtung Sofias Gefängnis, dem Neujungfrauenkloster - zu Henri Orlans Galerie.
Hinter dem Ziehharmonika-Stahlgitter der Galerie ist es dunkel. Das Schaufenster ist leer.
»Letztes Mal waren noch zwei Picasso-Skizzen drin«, sagt Valja. Wir sitzen im schnurrenden Mercedes und müssten eigentlich nicht flüstern, sie tut es trotzdem.
Auf der anderen Straßenseite liegt der Park mit den Metallenten und dem spiegelnden Teich, der in der mondlosen Nacht aussieht wie ein mit schwarzer Tinte gefüllter Krater. Durch das Fenster des Wachhäuschens leuchtet gelbes Licht.
Ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was wir da drinnen finden werden. Das Risiko einzugehen, dort einzubrechen, nur um diese Ahnung bestätigt zu sehen, ist dumm, zumal ich in letzter Zeit zu viele solcher Risiken eingegangen bin. Aber ich muss es genau wissen. Und ich will die Leda zurück. Ich telefoniere kurz. Schweigend warten wir zehn Minuten.
Juri, der Knüppel schwingende Bulle, kommt auf einem Roller angefahren. Er wirft einen Rucksack auf den Rücksitz des Mercedes und setzt sich zu uns. Die Straßenlichter spiegeln sich auf seinem dünnen Schnurrbart.
Ich zeige auf das verschlossene Gitter. »Kommen wir da rein?«
Er schwenkt einen schweren Eisenschlüssel und grinst. »Schönen Gruß von Viktor.«
Der Polizeichef auf meiner Gehaltsliste. Zuviel Risiko und vertane Gefallen. Beides ist nicht gut.
»Der Schlüssel ist für das Gitter und die Eingangstür«, sagt Juri. »Drinnen gibt es eine Alarmanlage.« Er gibt mir die Kombination und wartet auf eine Reaktion, aber ich sehe nur nach vorn. »Jeweils die Ecken auf der Tastatur. Von hinten nach vorne und zurück.«
Ich reiche ihm eine Taschenlampe. »Gib uns ein Zeichen, wenn der Wächter Richtung Osten geht.«
Er wirft einen Blick auf Valjas Hinterkopf und scheint ihr etwas sagen zu wollen, aber ich winke ab. Er steigt schnell aus, läuft einen halben Kilometer Richtung Norden, überquert die Straße und schlendert mit den Händen in den Taschen zurück zum Park. Valja kaut an ihren Nägeln. Das Licht des Armaturenbretts unterstreicht ihre provokanten Züge, was mich daran erinnert, wie Leda von der Leinwand
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