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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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Er deutete auf einen hünenhaften Armeespieler. »Kommen Sie, Genosse, Sie glauben doch nicht, dass die Pferdewäscher diesen Brocken da wegen seiner Fußballkünste mitgeschleppt haben.«
    Der Mann nickte zustimmend, wirkte aber immer noch durcheinander. Eine eher unauffällige Erscheinung, fand Koroljow, wahrscheinlich ein Buchhalter in einer Fabrik oder ein kleiner Beamter, allerdings strahlte sein Gesicht bei genauerem Hinsehen etwas Starkes aus. Er nahm vor ihnen neben einem blonden, ungefähr zehnjährigen Jungen Platz. Dann fing der Buchhalter an, dem Kleinen die Spieler zu zeigen, deren Namen er dem Stadionheft entnahm. Seine Stimme klang angespannt, und obwohl der Junge fragend zu ihm aufsah, las er einfach weiter vor.
    Achselzuckend schaute Koroljow Babel an. Die Reaktion des Unbekannten war befremdlich, aber vielleicht wirkte er mit seinem Verband um den Kopf wie ein Schläger. Babel musterte den Buchhalter, als wollte er ihn einordnen, schüttelte aber dann den Kopf. Wie um auf andere Gedanken zu kommen, zog der Schriftsteller einen silbernen Flachmann heraus, und zusammen mit dem begeistert einstimmenden Schwartz tranken sie auf ein faires Spiel.
    Inzwischen war die Tribüne brechend voll, und wie auf ein geheimes Signal hin erhob sich die Menge. Auch Koroljow verabschiedete sich von seinem Sitz und fiel in den Jubel ein, als das Spiel angepfiffen wurde und Spartak den Ball nach außen passte.
    Es war eine hart umkämpfte erste Hälfte. Wie von Koroljow vorhergesagt, kannten die Armeeverteidiger kein Pardon, aber auch Spartak blieb dem Gegner nichts schuldig. Das Spiel wogte hin und her, mit leichten Vorteilen für Spartak, doch dann, kurz vor der Halbzeit, konnte ein hochgewachsener Armeespieler nach einer sehenswerten Flanke den Ball ins Spartak-Netz einköpfen. Durch die Reihen der Rot-Weißen ging ein entsetztes Stöhnen, während die Armee-Anhänger grölten bis zur Heiserkeit. Trotz wütender Gegenangriffe hatte Spartak nichts Zählbares vorzuweisen, als die erste Hälfte abgepfiffen wurde. Um sie herum waren dunkle Andeutungen über Armeeverstöße und einen schwachen Schiedsrichter zu hören.
    Koroljow ließ den Blick über die dicht an dicht stehenden Menschen schweifen und bot widerstrebend an, Fleischpasteten zu holen. Er wollte dem Amerikaner ein richtiges Moskauer Sporterlebnis bieten, und dazu gehörten nach seiner Auffassung auch Fleischpasteten. Doch sobald er unter der Tribüne angekommen war, bereute er seine Entscheidung. Im Büfettraum stank es nach Schweiß, Urin und schalem Papirossa-Rauch, und als er endlich das vordere Ende der Schlange erreichte, hatte bereits die zweite Halbzeit begonnen. Auf dem Weg zurück tauchte plötzlich die kleine rothaarige Gestalt neben ihm auf, die er vorhin bemerkt hatte. Kim Goldstein gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er ihm folgen sollte, und Koroljow erkannte jetzt, dass sich auch andere Kinder in die gleiche Richtung durch die Menge drängten. Keine Minute später versammelten sie sich an einer ruhigen Stelle hinter der Tribüne.
    Mit entschlossen vorgeschobenem Kinn streckte der Junge die Hand aus. »Fünf Rubel.«
    »Fünf Rubel? Was soll denn fünf Rubel wert sein?«
    »Wir haben die Frau gefunden, nach der Sie suchen, Genosse Hauptmann.«
    Koroljow betrachtete die Kinder. Das junge Mädchen, das vorhin durch die Luft gesegelt war, hatte einen blutigen Riss am Hals und starrte ihn aus rot geränderten Augen an. Er nickte ihr zu, während er sich bemühte, Goldsteins Nachricht zu verarbeiten. Egal, ob er in dem Fall ermittelte oder nicht, es war doch sicher seine Pflicht, den Aufenthaltsort von Nancy Dolan in Erfahrung zu bringen.
    »Wo ist sie?«
    »Im Arbat. Fünf Rubel, haben Sie gesagt. Nach dem Spiel bringen wir Sie hin.«
    »In Ordnung. Hier sind zwei Rubel als Anzahlung. Ich muss noch jemanden zum Hotel begleiten, aber wir treffen uns dort. Kennt ihr das Praga?«
    »Das Kino? Natürlich, das kennen wir gut.«
    Aus dem Lächeln der Kinder schloss Koroljow, dass sie auf eine Möglichkeit gestoßen waren, sich hineinzustehlen. »Also, um sechs Uhr.« Er reichte Goldstein zwei Rubelscheine. »Seid ihr auch bestimmt da?«
    »Zu Befehl, Genosse Hauptmann.« Goldstein salutierte ironisch.
    Koroljow zweifelte schon, ob er wieder zu seinem Platz gelangen würde, als die Wand von Leibern vor ihm so plötzlich nachgab, dass er fast gestürzt wäre. Kurz darauf wusste er, warum. Hunderte von Zuschauern hatten den Kordon der Ordner

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