Russisches Requiem
Verbindung stand, musste mit heiklen Fragen rechnen - unter anderem also Popow, Semjonow, Babel und vor allem ein gewisser Hauptmann Alexei Dimitrijewitsch Koroljow. Stalin selbst würde die Angelegenheit in die Hand nehmen und sich bei seiner Reaktion wohl kaum große Mäßigung auferlegen.
Wie er es auch drehte und wendete, er musste mit dieser Nancy Dolan reden, um der Sache endlich auf den Grund zu gehen. Er zückte die Walther und überprüfte das Magazin. Fünf Minuten waren verstrichen, und niemand hatte neugierig in der Gasse herumgestöbert. Also konnte er sich wohl aus der Deckung wagen. Er ließ die Waffe zurück in das Schulterhalfter gleiten und machte sich auf den Weg zum Treffpunkt.
Der Arbat-Keller hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einer unterirdischen Höhle. Er war dunkel und stank nach Feuchtigkeit, verschüttetem Alkohol, Schweiß und Zigarettenrauch. Zahllose Papirossy hatten den ehedem weißen Wänden einen orangebraunen Belag verliehen, in den man seinen Namen kratzen konnte, wenn man dazu Lust hatte. In einer Ecke spielte ein ausgezehrter älterer Schwarzer halbvertraute Stücke auf einem ramponierten Klavier. Seine Finger wanderten wie Spinnenbeine über die Tasten, sein Blick hing in unbekannten Fernen. Einer von vielen in Moskau gestrandeten ausländischen Genossen, die sich nach ihrer Heimat sehnten und nicht wussten, ob sie den nächsten Winter in diesem Arbeiterparadies überstehen würden. Am frühen Abend zeigte sich der Keller nicht gerade von seiner besten Seite, doch später wurde es lebendiger. Immerhin hatte er den Vorteil, dass er bis weit in die Nacht geöffnet hatte und echter Wodka aus einer Fabrik serviert wurde statt selbst gebrannten Fusels.
Am Tresen orderte Jasimow zwei Gläser, und Koroljow ließ sich neben ihm nieder. Sie begrüßten sich und tranken sie in einem Zug leer.
»Ich muss bald nach Hause, Lenas Schwester aus Twer ist zu Besuch. Andererseits, wenn ich mir die zwei den ganzen Abend anhören muss, kann ich schon einen Schluck gebrauchen.« Jasimow nickte dem Kellner zu, und ihnen wurde nachgeschenkt, dazu gab es zwei Scheiben Schwarzbrot.
»Nur eine kleine Sache, nichts Besonderes.« Koroljow hoffte, dass diese Einschätzung zutraf.
»Aha.« Jasimow zog die Augenbraue hoch. »Du steckst in Schwierigkeiten?«
»Vielleicht. Ich will, dass du mir folgst. Du sollst nur aufpassen, nicht eingreifen. Wenn was Schlimmes passiert, sagst du es entweder Popow oder Semjonow. Sie wissen Bescheid.«
»Und du willst, dass ich einfach weggehe?«
»Ja. Misch dich nicht ein. Auf keinen Fall.« Zögernd brach Koroljow ein Stück Brot ab. »Möglicherweise ist es was Politisches. Aber um das rauszufinden, muss ich ein gewisses Risiko eingehen.«
»Und das da?« Jasimow klopfte auf die Ausbeulung unter dem Stoff seines Mantels. Er hatte tatsächlich seinen besten Freund dabei.
»Für dich, nicht für mich. Ich hab die Walther. Es sind unangenehme Elemente mit ihm Spiel. Banditen. Wenn dich einer angreift, schießt du ihn nieder, ohne lang Fragen zu stellen. Vielleicht treiben sich auch welche von der Staatssicherheit rum, aber das erkennst du am Schritt.«
Jasimow lächelte. Banditen hatten einen stilisierten Gang, eine Art Schlurfen mit nach innen gewandten Zehen. Es war ihre Version des Freimaurerhändedrucks.
Koroljow machte dem Kellner ein Zeichen, Jasimow nachzuschenken, und legte ein paar Rubel auf den Tresen. »Ich bin um sechs am Praga-Kino verabredet. Du folgst mir einfach und beobachtest alles. Semjonow und Popow werden eins und eins zusammenzählen, aber für dich ist es weniger gefährlich, wenn du möglichst wenig weißt.«
Jasimow nickte. »Du hast mir schon ein paarmal die Haut gerettet, das hab ich nicht vergessen, Bruder. Aber wenn die Sache schiefläuft, hast du mich nie gesehen. Das musst du mir versprechen -für Lena und die Jungen. Ich sorge natürlich dafür, dass Semjonow und Popow es erfahren.«
Sie reichten sich die Hand. Weitere Erörterungen waren überflüssig. Beim Hinausgehen warf Koroljow im Spiegel einen letzten Blick auf das bleiche Gesicht seines Kollegen, der in aller Ruhe sein Glas leerte und noch einmal nachbestellte.
Draußen war es dunkel, und auf der Straße herrschte reger Betrieb. Schulter an Schulter schlurften Fußgänger in abgewetzten Kleidern auf den Gehsteigen dahin und suchten nach Dingen, die sie erwerben konnten. In einem Schaufenster lagerten Büsten von Lenin und Marx neben Pappschachteln, aber offenbar nichts,
Weitere Kostenlose Bücher