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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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in der Zone endete? Koroljow atmete eine zarte Rauchfahne aus. Nochmal ganz von vorn, mahnte er sich. Das erste Opfer war die amerikanische Nonne Mary Smithson gewesen. Alles deutete darauf hin, dass sie wegen der Ikone nach Moskau gereist war. Darin schienen sich Gregorin und Kolja einig. Auch Schwartz' Geschichte über Nancy Dolan schien das zu bestätigen. Aber warum war sie zu Tode gefoltert worden? Nun, der Täter wollte ihr offensichtlich Informationen abpressen. Was für Informationen? Im Grunde konnte es nur um das Versteck der Ikone gehen. Kolja, Gregorin und Schwartz hatten übereinstimmend erklärt, dass die Tscheka die Ikone nach der Durchsuchung des Banditenschlupfwinkels in ihren Besitz gebracht hatte. Und solange sie noch in der Lubjanka aufbewahrt wurde, wäre es sinnlos gewesen, das Mädchen zu foltern. Also war sie tatsächlich aus der Lubjanka entwendet worden, und der Folterer musste in der Annahme gehandelt haben, dass die Kirche dahintersteckte oder zumindest wusste, wo sich die Ikone befand. Doch nach dem Ausmaß der Grausamkeiten und dem Blutverlust zu urteilen, war die heilige Schwester standhaft geblieben und hatte ihren Peinigern das Versteck der Ikone nicht verraten. Bei dem Gedanken an die Szenerie in der Sakristei erschauerte Koroljow. Die junge Frau musste hart wie Stahl gewesen sein.
    Auch bei dem Foltermord an Tesak hatte man es bestimmt auf Informationen abgesehen. Im Gegensatz zu der Nonne hatte der Bandit wahrscheinlich geredet, aber ob die Täter der Ikone damit näher gekommen waren, war eine andere Frage. Kolja hatte berichtet, dass sich die Banditen für eine Rückgabe der Ikone an die Kirche einsetzten, hatte aber zugleich abgestritten, ihr Versteck zu kennen. Die Mörder hingegen schienen vom Gegenteil überzeugt, und vielleicht nicht ohne Grund. Es war Kolja zuzutrauen, dass er ihn in diesem Punkt belogen hatte, auch wenn Koroljow ihm die Geschichte ansonsten zum größten Teil glaubte. Allerdings war ihm nicht klar, wie der tote Tschekist Mironow ins Bild passte - falls überhaupt. Er war auf andere Weise getötet worden, aber man hatte ihn ebenfalls gefoltert und in einer Kirche zurückgelassen. Es war also anzunehmen, dass auch hinter diesem Tod die Ikone steckte. Koroljow vermutete, dass Mironows Mitgliedschaft in der Auslandsabteilung dabei eine Rolle spielte.
    Und wer waren die Mörder? Koljas Sippe? Es war unwahrscheinlich, dass die Banditen ohne guten Grund eine Nonne und einen der Ihren töteten. Allerdings war nicht auszuschließen, dass Kolja Mironow aus eigenen Beweggründen getötet hatte. Ließ man aber den toten Tschekisten außer Betracht, war Kolja aus dem Schneider. Und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass die Kirche mittelbar oder unmittelbar dafür verantwortlich war, wenn in einer Sakristei Leute zerfleischt wurden. Damit blieb nur noch der NKWD.
    Gregorin hatte ihm erzählt, dass die Tscheka nach der Ikone forschte, was angesichts der Umstände ganz normal war. Aber war es möglich, dass der NKWD Menschen in Kirchen folterte und eine Spur von Leichen in ganz Moskau hinterließ? Nein, das wollte ihm nicht in den Kopf. Tesak und die Nonne hätten in Moskauer Gefängnissen verschwinden können, und kein Mensch hätte mehr etwas von ihnen gehört. Geheimhaltung war für die Tscheka kein Problem. Und warum dieses überstürzte Handeln, wo der NKWD doch alle nötigen Einrichtungen und die Zeit hatte, um Verhöre durchzuführen und die Gefangenen nach Belieben verschwinden zu lassen?
    Koroljow lief ein Schauer über den Rücken. Wenn nicht der NKWD, dann konnten es trotzdem Tschekisten gewesen sein - die von Gregorin erwähnten Verschwörer. Die Frage war nur, ob der Oberst nicht selbst in diese Verschwörung verstrickt war. Und Koroljow wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass es genau so war. Nach einem letzten Zug drückte er die Zigarette an der Wand aus. Eine schlimme Geschichte. Sehr schlimm, denn wenn Gregorin ein Verräter war, hieß das, dass die Ikone ins Ausland gebracht wurde und dass sich der Stabsoberst mit dem Geld aus dem Verkauf ebenfalls dorthin absetzen wollte. Die Tschekisten waren zu allem fähig, wenn die Kasanskaja in New York auftauchte, gefeiert mit Erzählungen über heroische Nonnen, die den Märtyrertod erlitten hatten, um sie aus den Händen der sowjetischen Unterdrücker zu befreien. Und nicht nur das, sondern auch noch ein hochrangiger Tschekist als Überläufer! Jeder, der auch nur entfernt mit Gregorins Verrat in

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