Russisches Requiem
hereintrugen, stand ihr der Schreck ins Gesicht geschrieben.
Um seine Verlegenheit zu überspielen, ergriff Koroljow das Wort. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele sind. Selbstmörder, meine ich. Ist es vielleicht der bevorstehende Winter, der sie dazu treibt?«
»Bei diesen Leuten könnte es alles sein.« Die Farbe kehrte in die Wangen der Ärztin zurück. »Ich weiß nur, dass es unsowjetisch ist, sich in Zeiten nationaler Not das Leben zu nehmen. Wer unglücklich ist, sollte Trost in nützlicher Arbeit suchen. Diese Leute ...« Sie winkte vage zur Leichenhalle und zum anderen Autopsiesaal. »Sie waren egoistisch. Individualisten. Ihr eigenes Schicksal war ihnen wichtiger als der Staat.«
»So ist es, Genossin«, erwiderte einer der Assistenten, die die Tote aus dem Leinensack nahmen und sie für die Ärztin bereit legten. »Statt mitzuhelfen, machen sie uns nur noch mehr Arbeit. Dabei sind die meisten von ihnen auch noch Parteimitglieder - sie sollten sich wirklich schämen.«
Die Männer arbeiteten mit sicheren und schnellen Handgriffen, obwohl sie die Leiche kaum ansahen. Auch dass das Mädchen mit Blut und Exkrementen beschmiert war, schien sie nicht zu beeindrucken.
»Soll ich den Genossen Esimow hereinrufen, damit er Ihnen zur Hand geht, Dr. Tschestnowa?«, fragte der zweite Assistent.
»Nein, lassen Sie ihn schlafen. Die Notizen kann Hauptmann Koroljow machen. Ist Ihnen das recht, Genosse?«
»Natürlich.« Korljow hatte nichts dagegen, diese Aufgabe zu übernehmen, zumal er sich auf diese Weise wenigstens sicher sein konnte, dass die Aufzeichnungen ausnahmsweise leserlich waren.
»Fangen wir an. Vorläufige Untersuchung eines unbekannten weiblichen Mordopfers, Beginn 15.45 Uhr, 2. November 1936. Bin ich zu schnell?«
Koroljow schüttelte den Kopf. Die Ärztin machte sich daran, die Leiche mit einem kleinen Schlauch zu reinigen und die verklumpten Stellen getrockneter Körperflüssigkeiten sanft mit einer Bürste zu entfernen. Während dieses Vorgangs nannte sie Einzelheiten zu den Hautverletzungen, die zum Vorschein kamen. Als die Tote sauber war, trat sie zurück und griff nach einem großen Skalpell. Mit einem bedauernden Lächeln setzte sie einen präzisen Y-Schnitt in die Brust bis hinunter zum Bauch. Dann streifte sie mit geübtem Griff die Haut zurück, um den Brustkorb und die inneren Organe freizulegen. Koroljow schaute kurz dem Fotografen in die Augen, ehe sie beide den Blick abwandten. Es gehörte sich einfach nicht, dass ein Mensch präsentiert wurde wie etwas in der Auslage eine Fleischers.
Wie immer zog sich die Autopsie endlos hin. Trotz ihrer Müdigkeit arbeitete die Ärztin sehr gründlich. Nach einer halben Stunde schlug Gerginow, der auf Zuruf Aufnahmen gemacht hatte, eine Pause und einen Schluck Wodka zur Stärkung vor.
»Ha-haben wir Gläser?« Er stellte den Flachmann neben den Kopf des Mädchens.
»Probengläser. Sie erfüllen ihren Zweck.« Tschestnowa deutete mit dem Ellbogen, während sie sich im Becken die Hände wusch. »Dort in der Schublade.«
»A-also dann.« Gerginow verteilte den restlichen Inhalt seiner Flasche gleichmäßig auf drei Glasgefäße. Die Ärztin trocknete sich mit einem Handtuch ab und hielt kurz vor der Toten inne. Überrascht bemerkte Koroljow Tränen in ihren Augen.
»Das arme Ding«, sagte Tschestnowa. »Jungfrau, vielleicht zwanzig. Höchstens zweiundzwanzig. Hat sich aufgespart, und dann das. Furchtbar.« Ihre Stimme brach, und sie blickte mit einem matten Lächeln auf. »Entschuldigt bitte, Genossen, ich habe zu lange nicht geschlafen. Ich schäme mich.«
Gerginow legte ihr den Arm um die Schulter, und die korpulente Frau lehnte sich einen Moment an ihren schmächtigen Beschützer. Dann richtete sie sich wieder auf und wischte sich verstohlen die Augen. Sie prostete der Toten zu.
»Ich hoffe, du warst glücklich in deinem Leben, Genossin. Wenigstens ein paar Momente lang.«
Alle erhoben ihr Glas und tranken den Wodka in einem Zug leer. Auch Gerginows Augen schimmerten feucht, und Koroljow spürte einmal mehr, wie ihm die Atmosphäre der Leichenhalle die Kraft aus den Gliedern saugte. Verzweifelt bohrte er sich die Fingernägel in die Hand.
»Wie lang musste sie Ihrer Meinung nach leiden?« Der Wunsch, wieder zur Sache zu kommen, machte seine Stimme unnatürlich laut. Die Ärztin und der Fotograf musterten ihn verdutzt.
»Nun ...« Tschestnowa überlegte. »Sicher kann ich es nicht sagen, aber die Verstümmelungen sind wohl erst
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