Russisches Requiem
Verwicklungen führen. Im Grunde begriff er nicht, warum man ihn den Fall weiterbearbeiten ließ. Als er sich mit der Hand übers Kinn rieb, spürte er ein stachliges Kratzen, obwohl er sich am Morgen rasiert hatte. Aber wenn er schon in der Sache drinsteckte, sollte er den Tschekisten auch so viele Informationen wie irgend möglich aus der Nase ziehen.
»Nun, Genosse Oberst.« Koroljow hörte, wie heiser seine Stimme klang. »Wenn sie aus Amerika stammt und reich ist - war sie vielleicht hier, um einen der vermissten Gegenstände zu erwerben, die Sie gestern Abend erwähnt haben? Liegt da die Verbindung?«
Gregorin schüttelte den Kopf, eher enttäuscht über die Naivität der Frage als verneinend. »Ich kann Ihnen nur noch eins über sie verraten. Übrigens wissen auch wir kaum mehr, daher brauchen Sie gar nicht nachzuhaken.«
»Ich bin Ihnen dankbar für jede Auskunft, Genosse Oberst.«
»Sie ist - oder war - Nonne. Der orthodoxe Kult in Amerika ist stärker, als man annehmen möchte. Schon vor der Revolution hatte er viele Anhänger. In der Nähe von New York gibt es ein orthodoxes Kloster, in das sie nach unseren Informationen vor drei Jahren eingetreten ist. Sicher ist Ihnen bekannt, dass die Kirche sehr aktiv gegen uns tätig ist. Meistens stellt sie sich geschickter an, wenn es darum geht, Agenten einzuschleusen. Vielleicht gibt es also eine andere Erklärung. Jedenfalls haben wir den Verdacht, dass sie im Auftrag der Kirche hierhergekommen ist. Natürlich befassen sich unsere Leute mit dieser Angelegenheit, vielleicht bekommen wir also noch weitere Informationen.«
»Haben Sie eine Ahnung, was das für ein Auftrag gewesen sein könnte? Das heißt, falls sie für die Kultanhänger gearbeitet hat.«
Gregorin seufzte. »Es ist kein Geheimnis, dass sich der orthodoxe Kult sehr für Gegenstände von religiöser Bedeutung interessiert - vor allem für Ikonen. Möglicherweise gibt es also wirklich einen Zusammenhang zwischen dem Mord und dem Schwund in unseren Beständen. Falls Sie Informationen über den Verkauf religiöser Gegenstände benötigen, sollten Sie mit einem Mann namens Schwartz reden, der im Metropol wohnt. Er ist Amerikaner und wickelt einen großen Teil des Verkaufs unserer Artikel ins Ausland ab. Das dürfen Sie keinesfalls vergessen, wenn Sie mit ihm sprechen. Aber ich gehe ohnehin nicht davon aus, dass Sie ihn hart anfassen würden.«
»Ich führe meine Ermittlungen auf andere Weise. Und wenn Ihre Schilderung zutrifft, begreife ich seine Bedeutung für den Staat.«
Oberst Gregorin trommelte auf den Ordner. »Gut. Schicken Sie mir weiter Ihre Berichte, und ich melde mich wieder. Und seien Sie vorsichtig, Hauptmann Koroljow. Sie haben es hier mit Leuten zu tun, die über Leichen gehen. Und wenn man sie erwischt ...« Er ließ den Satz unvollendet und stand auf.
Koroljow erhob sich ebenfalls. »Sagen Sie, Genosse Oberst, was war gleich wieder der Grund, warum der NKWD nicht selbst die Ermittlungen führt?«
Gregorin deutete zur Tür. »Ich begleite Sie hinaus.«
Und das war alles.
8
In der Petrowka-Straße stieg Koroljow sofort zu General Popows Büro hinauf, um ihm Gregorins Informationen zu geben und um weitere Instruktionen zu bitten. Als er jedoch den Absatz zwischen dem ersten und zweiten Stock erreichte, entdeckte er Jasimow, der die Wandzeitung las. In jeder sowjetischen Arbeitsstelle gab es eine Wandzeitung, die von Parteiaktivisten verfasst wurde, um die Arbeiter politisch zu erziehen und die Parteilinie publik zu machen. Schon von der Treppe aus hatte Koroljow keine Mühe, die acht Zentimeter hohen Großbuchstaben der Überschrift zu entziffern:
GENOSSE POPOW VERSAGT IM KAMPF GEGEN SCHÄDLINGE UND VERRÄTER!
Koroljow musterte Jasimow und öffnete den Mund zu einer Bemerkung, aber sein Freund schüttelte leicht den Kopf. Mit fast übertriebener Aufmerksamkeit begann er, einen anderen Beitrag zu lesen, während sich Koroljow wieder dem Leitartikel zuwandte. Zu seiner Überraschung wurde niemandem sonst vorgeworfen, die Pflicht zur Entlarvung von Schädlingen und Verrätern vernachlässigt zu haben. Zu Letzteren wurde sicher sein früherer Kollege Eisenfaust Mendelejew gerechnet. Jasimow blickte nicht nur aus Sympathie so düster drein. Sie hatten beide eng mit Eisenfaust zusammengearbeitet und jahrelang ein Zimmer mit ihm geteilt. Wenn er tatsächlich ein Landesverräter gewesen war, hätten sie dies sicher lange vor Larinins Denunziation erkannt. Er überflog die
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