Russisches Requiem
und seltene Automobile, die sich auf der Petrowka-Straße durch Eis und Matsch kämpften. Vielleicht überlegte der General, wie es all diesen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in so viele Richtungen strebenden Menschen gelang, einen Zusammenstoß zu vermeiden. Es konnte Jahre kosten, die Antwort auf so eine Frage zu finden.
9
Auf dem Weg hinunter zu Zimmer 2F grübelte Koroljow weiter über die Bedeutung des Angriffs in der Wandzeitung gegen Popow nach. Er hoffte, dass sich seine Sorgen als unbegründet erwiesen. Vielleicht reichte es, wenn der General bei der Versammlung offen und ehrlich einräumte, dass er es an der für alle Parteimitglieder so wichtigen ständigen Wachsamkeit hatte fehlen lassen. Vielleicht wurde Popow sein Vergehen verziehen, wenn er durch öffentliche Selbstkritik seinen aufrechten Charakter unter Beweis stellte. Vielleicht aber auch nicht. In den letzten Wochen hatte sich eine unmerkliche Veränderung vollzogen, die nichts Gutes verhieß. Niemand wusste Genaueres über Jeschow, den neuen Kommissar für Staatssicherheit, außer dass er besser sein musste als sein Vorgänger Jagoda. Immerhin hatte sogar Stalin angedeutet, dass die endlose Selbstzerfleischung möglicherweise zu weit gegangen war. Doch in jüngster Zeit war auch zu hören gewesen, dass Jagoda in Ungnade gefallen sein könnte, weil er nicht weit
genug
gegangen war. Wenn das zutraf, konnten die öffentlichen Vorwürfe gegen Popow, der diskret, aber entschieden eine umfassende Säuberung der Kriminalmiliz verhindert hatte, den Auftakt zu weit Schlimmerem bedeuten. Gregorins Äußerung von vorhin, dass Jeschow hart gegen die Feinde der Partei zurückschlagen wollte, war beunruhigend, weil sie darauf hinauslief, dass Jagoda auf irgendeine Weise zu
weich
gewesen war. Als er die Wandzeitung und die Schar der davorstehenden Kriminalbeamten erblickte, fluchte er stumm vor sich hin. Er hoffte, dass ihn sein Instinkt trog, doch nach dem Gesichtsausdruck und dem beredten Schweigen seiner Kollegen zu schließen, war er mit seinen Befürchtungen nicht allein.
Im Zimmer 2F wartete Semjonow, der sich im Gegensatz zu Koroljow auf die angesetzte Autopsie zu freuen und als Einziger im Haus das böse Omen der Wandzeitung nicht registriert zu haben schien. In aller Kürze fasste Koroljow zusammen, was im Tomski-Stadion geschehen war. Semjonow sammelte seinen Mackintosh und die flache Mütze auf, dann marschierten sie gemeinsam hinunter in den Hof, um einen Wagen zu holen. Unterwegs unterrichtete er Koroljow über Einzelheiten der forensischen Untersuchung und der Tür-zu-Tür-Befragung durch die örtliche Miliz. Soweit Semjonow das erkennen konnte, war die durchtrennte Stromleitung tatsächlich ein Unfall gewesen. Vom Vorarbeiter der Baustelle hatte er erfahren, dass der Arbeiter, der in das Kabel geschnitten hatte, mit ernsten Verletzungein im Krankenhaus lag. Das ließ darauf schließen, dass der Tatort der Gelegenheit folgend ausgewählt worden war, und das war interessant. Ansonsten gab es bislang keine wesentlichen Fortschritte, aber zumindest war die Sache jetzt eingeleitet, und mit ein wenig Glück ergaben sich dabei schon bald erste Teile eines Mosaiks, das sie zum Mörder führen konnte.
Semjonow war ganz aufgeregt über den Umfang der Ermittlungen und das Mysteriöse des Verbrechens. »Das ist wie bei Sherlock Holmes, Alexei Dimitrijewitsch, wirklich. Logische Schlussfolgerungen, darauf kommt es jetzt an. >Logik, mein lieber Watson< - damit können wir den Täter entlarven.«
Koroljow gab sich Mühe, sich nichts von seinem Amüsement anmerken zu lassen. Er deutete auf den Mackintosh. »Der wird Ihnen nicht viel helfen, wenn es richtig kalt wird.«
Semjonow nahm den Saum des Mantels zwischen Finger und Daumen, um zu zeigen, wie dünn der gummibeschichtete Baumwollstoff war. »Kann schon sein. Aber ich trage drei Unterhemden unter dem Hemd. Außerdem habe ich noch einen alten Wintermantel. Den kann ich anziehen, wenn es wirklich kalt wird.«
»Wenigstens sieht er aus, als wäre er wasserdicht«, bemerkte Koroljow. »Ist er auch. Und im Arbat tragen alle Leute so einen Mantel.«
Koroljow fielen gleich mehrere Antworten darauf ein, aber er hielt sich lieber zurück. Seiner Meinung nach hätten die jungen Modevorreiter, die im Stadtteil Arbat auf und ab stolzierten, geschlossen in die Moskwa springen können, ohne dass es für die Stadt ein großer Verlust gewesen wäre.
Als sie zu der kleinen Holzbude mitten auf dem
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