Russisches Requiem
öffneten die Tür gerade rechtzeitig, um zu erleben, wie Larinin mit einem fetten Finger vor der Pathologin herumfuchtelte, um seine Worte zu untermalen. Die beiden waren gleich groß und massig, aber im Fall von Handgreiflichkeiten hätte Koroljow eher auf Tschestnowa gewettet, die in diesem Augenblick an einen zornigen Stier kurz vor dem Angriff erinnerte. Im Hintergrund lächelte Gerginow nervös. Aus seiner leicht benebelten Miene schloss Koroljow, dass er wieder einmal dem medizinischen Alkohol zugesprochen hatte.
»Was ist hier los, Larinin?« Koroljow trat auf die zwei Duellanten zu.
Larinin drehte sich um und passte die Blickhöhe der Körpergröße seines Kollegen an. »Der Ärztin hier scheint nicht klar zu sein, dass die Miliz Anspruch auf die schnellstmögliche Durchführung von Autopsien hat, Genosse Koroljow. Ich bearbeite einen äußerst wichtigen Fall - der General hat mich um große Eile gebeten -, und nun erzählt mir Dr. Tschestnowa, dass ich warten muss. Während wir uns hier unterhalten, könnte der Täter gerade entfliehen, und alles nur, weil diese Frau noch keine Zeit gefunden hat, das Opfer zu untersuchen. Damit sabotiert sie unsere Arbeit. Für mich ist sie ein Schädling, wenn Sie mich fragen. Mich würde interessieren, aus welcher Klasse sie stammt.« Die letzte Bemerkung brachte er mit einem boshaften Glitzern in den Augen vor, die einem normalen Menschen sicherlich Angst eingejagt hätte, Dr. Tschestnowa aber nur noch mehr in Rage brachte.
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sie Fettkloß.« Mit wogendem Busen trat Tschestnowa so nah auf Larinin zu, dass sie sein Gesicht beim Sprechen mit Speichel bespritzte. »Ich habe Ihnen erklärt, dass Ihre Leiche in zwanzig Minuten dran ist. Im Moment bin ich noch mit einer Autopsie für den NKWD beschäftigt. Soll ich der Lubjanka mitteilen, dass Sie die Miliz für wichtiger halten? Ich kann gerne anrufen.«
Larinin sah aus, als hätte er eine Hornisse verschluckt. Nachdem er zweimal geblinzelt hatte, schaute er sich hilfesuchend zu seinen Kollegen um. Koroljow zuckte mit einem leisen Lächeln die Schultern, während Semjonow das dramatische Gefecht überhaupt nicht wahrnahm, weil er sich am Fenster zum Autopsiesaal die Nase plattdrückte, wo die Selbstmörder aufgestapelt lagen.
Larinin zog ein finsteres Gesicht und winkte dann verächtlich ab. »Warum sagen Sie das nicht gleich, Dr. Tschestnowa, statt uns hier allen die Zeit zu stehlen? Natürlich hat die Staatssicherheit Vorrang. Das hat Genosse Stalin schon hundertmal betont. Wahrscheinlich sogar schon tausendmal.«
»Genau das will ich Ihnen schon seit fünf Minuten erklären, aber Sie haben ja nur Ohren für Ihre eigene Stimme. Schwafel, schwafel, schwafel. Wer sind Sie überhaupt, dass Sie hier mit Verleumdungen um sich werfen wie früher mit Ihren Strafzetteln? Sherlock Holmes?«
Larinin antwortete mit einem entschiedenen Kopfschütteln auf diese Frage.
»Genossen«, schaltete sich Koroljow mit lauter Stimme ein, »denkt an das Sprichwort: Der Klügere gibt nach.«
Nach kurzer Verwirrung setzten sowohl Larinin als auch Tschestnowa eine leicht selbstgefällige Miene auf.
»Zufälligerweise muss ich ebenfalls einen Blick auf den Toten werfen. Kommen Sie, Larinin, rauchen wir draußen eine, da können Sie mir alles über den Tatort erzählen. Die Leiche läuft uns nicht davon, und Genossin Tschestnowa kann inzwischen ihren anderen Pflichten nachkommen.«
Auf der Vortreppe des Instituts war es so kalt, dass ihr Atem und der Zigarettenrauch nicht voneinander zu unterscheiden waren. Larinin berichtete kurz, dass die verstümmelte Leiche im Tomski-Stadion auf den Stehplätzen hinter dem Tor entdeckt worden war. Die zahlreichen Tätowierungen ließen darauf schließen, dass es sich bei dem Ermordeten um einen Banditen handelte. Die Fußspuren von zwei Leuten hatten zu dem Toten und von ihm weggeführt. Mehr wusste Larinin nicht. Die Leiche war nur abgelegt worden, alles Übrige war anderswo geschehen. Seiner Meinung nach war ein Bandit mit seinen Komplizen in Streit geraten und hatte dabei den Kürzeren gezogen.
Koroljow musste alle seine Geduld zusammennehmen, um ruhig zuzuhören, dann marschierte er mit den anderen zurück in die Leichenhalle.
Im zweiten Autopsiesaal rollten zwei Assistenten ohne lange Umstände einen Leichensack auf die metallene Arbeitsplatte. Schnell lösten sie die Schnur, die an dem Leinenüberzug entlanglief und öffneten ihn wie eine Banane. Die Tücher
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