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Russisches Requiem

Russisches Requiem

Titel: Russisches Requiem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Ryan
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kopfsteingepflasterten Hof gelangten, wurden sie von Morosow begrüßt, einem älteren Exsoldaten, der 1914 ein Auge eingebüßt hatte. Mit seiner Piratenbinde wachte er über die rund zwanzig Automobile, aus denen die Fahrzeugflotte der Kriminalmiliz bestand. Er war berüchtigt für seine Bärbeißigkeit.
    »Lassen Sie mich mit ihm reden«, flüsterte Semjonow.
    »Guten Tag, Genossen.« Morosow schlug die Handschuhe zusammen und stampfte mit den Füßen auf. »Der Winter ist früh dran dieses Jahr. Sie brauchen wohl einen Wagen, Alexei Dimitrijewitsch? Machen Sie eine kleine Spritztour mit dem jungen Kollegen?« Unter der Pelzmütze blitzte sein verbliebenes Auge auf. Trotz seiner Kauzigkeit hatte er eine Schwäche für Koroljow.
    »Haben Sie was Feines für uns, Genosse Morosow?«, drängte sich Semjonow vor. »Da drüben sehe ich einen neuen Emka. Hervorragende Automobile, wie ich höre.«
    Morosow musterte Semjonow von oben bis unten, ehe er sich wieder Koroljow zuwandte und mit behandschuhten Fingern seine Augenklappe zurechtzupfte. »Sie werden fahren, nicht wahr, Alexei Dimitrijewitsch?«
    Semjonows flehendem Blick war Koroljow nicht gewachsen. »Vielleicht lasse ich den Kollegen ans Steuer, Pawel Timofejewitsch, aber natürlich nur unter meiner Aufsicht.«
    Mit einem Knurren verschwand Morosow in der Bude und trat kurz darauf wieder heraus. »Der Ford.« Er warf Semjonow den Schlüssel zu, der ihn lächelnd auffing. »Ein Wagen ist ein Verkehrsmittel, mein Junge, kein Spielzeug. Der muss genügen. Der Emka ist nichts für Draufgänger wie Sie.«
    »Ich werde ihn hüten wie mein Eigentum, Pawel Timofejewitsch.«
    »Wie Ihr Eigentum? Hoffentlich haben Sie etwas mehr zu bieten, dieses Automobil gehört nämlich dem sowjetischen Volk. Nicht besonders schnell, aber zuverlässig.« Morosow deutete zum Ende der Wagenschlange.
    Als sich Koroljow auf den Beifahrersitz gezwängt hatte, hatte Semjonow bereits den Motor angelassen. »Nur um das klarzustellen: Sie dürfen zwar fahren, aber bitte langsam. Die Straßen sind vereist, und ich möchte heil nach Hause kommen.«
    »Selbstverständlich, Alexei Dimitrijewitsch.« Semjonows Miene war so unschuldig, dass man ihr auf keinen Fall trauen konnte. »Zum Institut?«
    »Zum Institut«, bestätigte Koroljow ohne Begeisterung.
    »Hervorragend. Und danach?«
    »Das wird sich zeigen.« Koroljow musste laut rufen, da Semjonow aus Versehen den Motor bis zum Anschlag aufgedreht hatte. Aus den überhängenden Bäumen flatterte kreischend eine Schar schwarzer Vögel auf. Morosow stürmte aus seiner Bude und funkelte den jungen Beamten so giftig an, dass das Heulen des Motors sogleich zu einem leisen Knattern verhallte. Verlegen löste Semjonow die Handbremse und lenkte den Wagen über den Hof, während Koroljow den Mantelkragen hochschlug, um sich vor dem eisigen Zug durch die zerbrochene Windschutzscheibe zu schützen, und Morosows gekränkten Blick vermied.
    Beim Passieren der Schranke grüßte Semjonow den durchnässten Posten und bog nach links in den Strom von Karren, Radfahrern und langsamen Lastwagen ein, bevor er in die Mitte der Straße steuerte, wo weniger Verkehr war. Es war seltsam, überlegte Koroljow, dass in der Wochenschau nie die Karren und Pferde gezeigt wurden. Fast als würden sie in Schwarz-Weiß nicht existieren oder zumindest langsam aus dem Bild verschwinden, um Platz für die schnellen Lastwagen und Automobile der Zukunft zu machen. Aber nicht nur die alten Verkehrsmittel wurden ersetzt. Auf der Gorki-Straße staunte Koroljow nicht zum ersten Mal über das Ausmaß der Bautätigkeit in der Stadt. Vor ihrer Umbenennung zu Ehren des großen sowjetischen Autors war die Twerskaja-Straße ein schmaler Verkehrsweg gewesen, der nun in eine herrliche, breite Asphaltavenue mit Gehsteigen zu beiden Seiten und gewaltigen neuen Bauten verwandelt wurde, die so solide und praktisch gestaltet waren, wie man es von sowjetischen Architekten erwarten konnte. Auf dem neuen Straßenbelag bewegte sich das Automobil so sanft, wie es sein alter Motor und die knochenerschütternde Federung zuließen, und passierte Arbeitstrupps, die den Matsch von der Straße räumten und ihn an den Seiten zu hohen Wällen auftürmten.
    Hier gab es mehr motorisierte Verkehrsmittel: grünbeige Stadtbusse, die bei der Abfahrt von Haltestellen schwarze Rauchwolken ausstießen, voll besetzte rot-weiße Straßenbahnen und einen ununterbrochenen Strom schlammverschmierter Lastwagen. Doch außer ihrem war

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