Russisches Requiem
nicht wahrheitsgemäße Abbildung, die eine Position oder eine Geschichte beanspruchte, auf die der Bandit kein Recht hatte, wurde ihm von seinen Kameraden weggebrannt oder -geschnitten. Und wenn eine Tätowierung als besonders irreführend betrachtet wurde, bezahlte der Übeltäter sogar mit dem Leben dafür.
Als Tschestnowa die Leiche reinigte, traten weitere Bilder hervor. Die größte Tätowierung, eine Darstellung der Kreuzigung, erstreckte sich über die ganze Brust. Ein bärtiger Jesus starrte herab, die Dornenkrone im blutigen Haar, die Hände mit derben Eisen ans Kreuz genagelt. Wunderschön ausgeführt, jede Rippe einzeln schattiert, alle Sehnen und Muskeln klar umrissen. Die Arbeit stammte von einem Meister seines Fachs. In seiner Tasche machte Koroljow heimlich das Kreuzzeichen. Die Tätowierung war eine lebendige Ikone gewesen, aber sie war auch das Rangabzeichen eines Mannes, der sowohl im Gefängnis als auch auf der Straße zu den führenden Köpfen der Banditen gehört hatte. Allein die Darstellung sprach Bände; der Künstler hatte bestimmt Wochen gebraucht, um eine Tätowierung von solcher Größe und Feinheit anzufertigen, und jeder Tintenstich hatte Schmerzen verursacht. In der Welt der Diebe galt eine unvollendete Tätowierung nicht als Schande.
Unter der linken Brustwarze des Toten, direkt unter den hängenden Fingern Christi, starrte Stalin seitlich auf eine rote Stelle, wo die Haut abgelöst worden war. Hinter ihm war eine ähnlich blutige Stelle. Koroljow wusste, dass hier die Profile von Lenin und Marx fehlten und weshalb Banditen solche Darstellungen trugen. Er fand es seltsam, dass ausgerechnet Stalin noch da war, und fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte.
Kaum eine Stelle des Körpers war frei von Tintenbildern. Auf der linken Schulter prangte ein Schädel, durchbohrt von einem Kruzifix, an dessen Querbalken eine Waage hing. Dieses seltene Bild bedeutete, dass der Tote bei den inneren Streitigkeiten der Banditen als Richter fungiert hatte. Die andere Schulter zierte eine Tätowierung der Jungfrau Maria, die auf der Ikone der Gottesmutter von Kasan beruhte. Diese als Kasanskaja bekannte Ikone hatte eine besondere Bedeutung für die Banditen, was aber im Grunde nicht weiter bemerkenswert war, weil sie in der gesamten orthodoxen Kirche wie keine zweite verehrt wurde. Weitere Bilder gaben Aufschluss über den Ermordeten: Eine Katze mit Musketierhut stand für die unbeschwerte Lebensauffassung, das Segelschiff für einen Ausbruch aus dem Gefängnis - und ein Messer, das sich in die Haut bohrte, für die Tatsache, dass der Mann für seine Sippe getötet hatte. In der Tat ein reizender Zeitgenosse.
»Vi-vielleicht unwichtig. A-aber die Leiche des Mä-mädchens war ge-genauso hingelegt wie die Kr-kreuzigungstätowierung.« Gerginow deutete auf die Brust des Banditen.
Mit einem Nicken bestätigte Koroljow diese Beobachtung, dann nahm er die Finger des Toten in Augenschein. Zwei fehlten ganz, aber schon länger, wahrscheinlich die Folge eines Glücksspiels. Wenn ein Verlierer in der Zone seine Schulden nicht begleichen konnte, wurde er oft mit dem Verlust eines Fingers bestraft. Die noch vorhandenen Finger waren mit blauen Darstellungen geschmückt, die wie Siegelringe gestaltet waren.
»Schauen Sie, Wanja. Das ist seine Lebensgeschichte.« Koroljow nahm die Linke des Toten. »Der Adler auf dem Daumen besagt, dass er ein wichtiger Bandit ist, eine >Autorität<. Und hier die zwei Kreuze in Kreisen auf dem Handballen bedeuten, dass er zweimal im Gefängnis war. Wir haben also sicher eine Akte über ihn. Das Bild auf dem Zeigefinger mit dem schwarz-weißen Edelstein drückt aus, dass er in der Zone jede Arbeit verweigert hat. Kreuz und Pik unter dem Mönchskloster? Auch das weist ihn als Anführer aus, dem unter seinesgleichen Respekt gebührt.« Er zeigte auf einen Käfer mit orthodoxem Kreuz auf dem Rücken. »Das hier heißt, dass er wegen Raub verurteilt wurde. Das einfache Kreuz am kleinen Finger steht für seine Einzelhaft während dieser Zeit. Naja, kein Wunder, wenn er die Arbeit verweigert.«
Mit weit aufgerissenen Augen kritzelte Semjonow alles in sein Notizbuch. Koroljow betrachtete die andere Hand, die mit den fehlenden Fingern. Er wies auf die Ringtätowierung am Zeigefinger, ein Quadrat mit senkrechten und waagrechten Linien. »Das hier bedeutet: >Mein Schicksal liegt in großen Quadraten.< Anders ausgedrückt, er ist dazu bestimmt, im Gefängnis zu sterben und durch das
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