Russisches Requiem
weit und breit kein Automobil zu sehen. Vorausplanung war der Schlüssel zu einer wirtschaftlichen Entwicklung, wie sie erforderlich war, damit die Sowjetunion ihren Platz unter den großen Nationen der Welt einnehmen konnte. Die Automobile würden nicht mehr lange auf sich warten lassen.
»Bald werden wir Amerika überholt haben«, brüllte Koroljow durch den Motorenlärm, als sie ein neues Gebäude passierten, das mit Eisenträgern vor den grauen Wolken seine künftigen Umrisse erahnen ließ.
»Ich habe gehört, sie wollen Hochhäuser errichten«, rief Semjonow zurück. »Größer als die in New York, sogar noch größer als das Empire State Building. Genosse Stalin persönlich hat die Pläne gebilligt, sie sollen zwanzigmal so hoch sein wie das Hotel Moskwa.« Mit einem abfälligen Nicken deutete er auf das gedrungene, mächtige Gebäude. »Und sie wollen die Häuser mit Hilfe von Schienen verschieben, um die Straßen geräumiger zu machen. Wie ein Fußballfeld oder sogar noch breiter. Vielleicht so breit, wie ein Fußballfeld lang ist? Jedenfalls laufen die Planungen bereits.«
»Ein Fußballfeld? Und sie wollen die Häuser verschieben?« Koroljow schüttelte den Kopf.
»Auf Schienen, wie eine Straßenbahn. An einer Haltestelle werden sie aufgeladen, an einer anderen abgeladen. Hat mir ein Freund erzählt, aber das ist noch geheim. Allerdings wissen es sowieso schon alle, so geheim kann es also nicht sein. Anscheinend haben unsere Ingenieure alles schon genau ausgetüftelt.«
»Die Sowjetunion ist der Welt ein leuchtendes Vorbild, Wanja.« Koroljow meinte, was er sagte, doch zugleich musste er an die engen Gassen und die vertrauten Häuser seiner Jugend denken, die nun hin- und hergeschoben wurden, wenn sie nicht sogar dem Erdboden gleichgemacht und als Baustoff für das Fundament der neuen Stadt verwendet wurden. Das Moskau, in dem er aufgewachsen war, war ein Ort voller Geheimnisse und Gerüche, Höfe und Gassen, Winkel und Verstecke gewesen. Bei der Umgestaltung ging es um Größe, Raum und Erhabenheit, und obwohl er nicht an der Richtigkeit dieser Ziele zweifelte, fragte er sich manchmal, ob er wie das alte Moskau einen Platz finden würde in der neuen Welt, die der Sozialismus um ihn herum erstehen ließ.
Je weiter sie sich von der Stadtmitte entfernten, desto schmaler und schlechter wurde die Straße, schartig und löchrig von den schweren Lastwagen und rutschig vom festgedrückten Schnee, der noch nicht weggeräumt war. In dieser vom Umbau noch nicht erreichten Gegend lehnten wacklige Mietshäuser an vielkuppeligen, seit zwanzig Jahren vernachlässigten Kirchen. Der größte Teil dieses Viertels war für den Abriss bestimmt, und einige Häuser waren bereits verschwunden, um einem riesigen Tunnelbau für eine neue Metrolinie zu weichen. Eine Gruppe Arbeiter in dreckverkrusteten Kleidern hatte sich unter einem Spruchband versammelt, dessen Aufruf sie wahrscheinlich gefolgt waren: »Komsomolzen! Helft mit, die Metro zu bauen! Eure Zukunft braucht eine gute Bahn!« Als sie an der Schlange vorbeirollten, schoss plötzlich ein schwerer Laster aus der Baustelleneinfahrt und zwang Semjonow zu einer heftigen Bremsung, so dass die Reifen des Ford übers Eis schlitterten, ehe sie zum Stillstand kamen. Der Fahrer, der aussah wie ein Schüler, winkte nur gutmütig bedauernd, als hinter ihm die Hupe ertönte.
»Wir sind von der Miliz!«, brüllte Semjonow, als der Lastwagen vorbeifegte, doch der junge Bursche fuhr einfach winkend weiter.
Semjonow schimpfte noch immer leise vor sich hin, als sie fünf Minuten später vor dem Institut anhielten. »Ich bin auch beim Komsomol, Alexei Dimitrijewitsch, aber ich muss sagen, der Kerl ist einfach schlecht gefahren. Ich schäme mich für ihn. Wenn ich wüsste, zu welcher Zelle er gehört, würde ich das melden. Er hätte uns umbringen können, und es wäre bestimmt nicht meine Schuld gewesen, glauben Sie mir.«
»Ich glaube Ihnen, Wanja. Aber kommen Sie jetzt, werfen wir einen Blick auf die Leiche.«
Nachdem der Wagen geparkt war, betraten sie das Gebäude mit dem vertrauten Geruch nach Desinfektionsmitteln und Feuchtigkeit. Als sie sich der Leichenhalle näherten, konnten sie schon von weitem Larinin laut mit Dr. Tschestnowa streiten hören.
»Ich muss mich auch um andere Sachen kümmern, Genossin. Bitte suchen Sie nicht nach Ausreden für die Verzögerung. Das ist nichts als Schlamperei. Diesen Schlendrian können wir als Parteimitglieder einfach nicht dulden.«
Sie
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