Russisches Requiem
offenbarten einen grauen Leichnam und mit ihm feuchten Verwesungsgeruch. Mit gewandten Griffen machten sich die Assistenten die Starre des Toten zunutze, um den Sack unter diesem hervorzuziehen. Dann verließen sie wortlos den Raum.
Semjonow stieß einen Pfiff aus. »Der muss wirklich jemandem auf den Wecker gegangen sein. Schaut euch mal die Kronjuwelen von dem armen Kerl an.«
Die Bemerkung war nicht aus der Luft gegriffen. Das Gesicht und der Körper des Banditen waren blutig und zerschlagen, und ein rußumrandetes Loch mitten auf der Stirn verwies auf die wahrscheinliche Todesursache. Auch abgesehen von den Misshandlungen in seinen letzten Stunden hatte der Mann kein leichtes Leben gehabt: Not, Gewalt und Alkohol hatten deutliche Spuren hinterlassen. An seinem rechten Ohr fehlte ein bissgroßes Stück, seine Nase schien mehrfach gebrochen, und seine verbliebenen Zähne waren gelb und unregelmäßig. Doch der Grund für Semjonows Bestürzung waren die grausigen Verletzungen an den Genitalien. Koroljow musste kurz den Blick abwenden, um sich zu sammeln, ehe er sich wieder auf den Banditen konzentrieren konnte.
Der Tote hatte ein breites Gesicht und braunes Haar, das an den Seiten kurzgeschnitten und oben etwas länger war. Seine Statur war noch immer imposant: die Brust breit, die Arme stark und muskulös. Doch es waren vor allem die Tätowierungen am ganzen Körper, die ihn genauso unzweifelhaft als Banditen auswiesen wie eine aufgeschlagene Polizeiakte. Außerdem konnte man ihnen ähnlich viel an Informationen entnehmen, wenn man sie nur zu deuten wusste.
Hinter ihnen öffnete sich die Tür, und ein Assistent trat ein. »Hier ist die Ausrüstung des Ärmsten.« Er stellte zwei Glasgefäße mit den fehlenden Körperteilen zu Füßen der Leiche ab. Der Penis erinnerte Koroljow an ein weggeworfenes Stück Brotteig.
»Da kann einem wirklich übel werden.« Semjonows Blässe hatte tatsächlich einen grünlichen Stich. Koroljow war zu sehr mit seinem eigenen Magen beschäftigt, um Mitleid aufbringen zu können.
»Also, was haben wir hier?« Tschestnowa betrat das Zimmer und hob eins der Gläser hoch. Sie schüttelte den Inhalt von einer Seite zur anderen, um ihn im Licht zu inspizieren. »Sieht nach einem Hoden aus.« Ihr Blick glitt zu Larinin. »Und nicht nur einer, wenn ich mich nicht täusche.«
Larinin zog ein finsteres Gesicht.
»Meinen Sie, dass das wieder unser Mörder war, Genossin?« Koroljow hoffte, die Pathologin mit seiner Frage ablenken zu können. Er wusste nicht, wie lange er den Anblick der gerüttelten Hoden noch ertragen konnte, ohne sich zu übergeben.
Prüfend drückte die Ärztin den Finger in den Wadenmuskel des Toten. »Könnte sein. Die Leichenstarre ist bereits eingetreten, aber letzte Nacht war es kalt. Wo wurde er gefunden?«
»Auf den Stehplätzen im Tomski-Stadion, im Schnee. Anscheinend nach dem Mord dort abgelegt.« Koroljow merkte, dass Semjonows Blick dem Glas in Tschestnowas Hand folgte wie der Flöte eines Schlangenbeschwörers.
»Hm, letzte Nacht war es weit unter null Grad, da lässt sich der genaue Todeszeitpunkt schlecht angeben. Aber die Verwesung hat schon eingesetzt, es könnte also vierundzwanzig Stunden her sein oder sogar länger. Ah, schauen Sie sich das an. Erkennen Sie diese Flecken wieder?«
Tschestnowa deutete auf die kleinen verbrannten Schwielen in der Leistengegend und um die Brustwarzen, die Koroljow sofort aufgefallen waren, nachdem der Tote auf den Tisch gelegt worden war.
»Wie bei dem Mädchen?«, fragte er.
»Mit dem gleichen Gerät verursacht, würde ich nach einem ersten Blick sagen.« Tschestnowa beugte sich tiefer über den Toten. »Ziemlich eindrucksvolle Tätowierungen, Genosse Hauptmann.«
Koroljow knurrte zustimmend. Fast der gesamte Körper des Toten war mit schwarzblauen Darstellungen bedeckt - Gefängnistätowierungen, gestochen mit einem Rasiermesser oder einer Nähnadel und mit Tinte aus Kohlenstaub und Urin. Jedes Bild erzählte ein Kapitel aus dem Leben des Mannes oder bekräftigte seine Stellung in der Hierarchie der Banditen. Sein Vorstrafenregister, aus der Perspektive des Kriminellen erzählt. Oft gaben diese Tätowierungen zuverlässiger Auskunft als die Akten der Miliz. Polizisten konnten bestochen, offizielle Urkunden gefälscht werden, doch die Tätowierungen eines Banditen logen nie. Im Gefängnis waren sie seine Visitenkarte, und als Erstes wurde er mit der Frage konfrontiert, ob er zu seinen Tätowierungen stand. Eine
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