Russisches Requiem
Ausweise von Leuten zu überprüfen. Während er die Blintschiki zubereitete, erzählte Boris Nikolajewitsch seine Neuigkeiten. Er gehörte jetzt zu einer nahe gelegenen staatlichen Kantine. Damit hatten seine Probleme mit den Behörden abgenommen, allerdings auch sein Spielraum bei der Beschaffung von Zutaten.
»Das Beste behalten die natürlich für sich, aber ich komm über die Runden.« Der Budeninhaber wickelte die Blintschiki ein und händigte sie Koroljow aus. »Ich kann froh sein, dass ich der Sohn eines Straßenkehrers bin. Schauen Sie sich den armen Denissow auf der anderen Straßenseite an. Sohn eines Fabrikbesitzers. Sie können sich gar nicht vorstellen, was der für Scherereien hat. Wir sind beide 97 geboren. Wer hätte damals ahnen können, was die Zukunft bringt?«
Nachdem Koroljow neunzig Kopeken bezahlt hatte, stieg er wieder in den Wagen und reichte Semjonow seine Mahlzeit. Erst als er die seine öffnete, bemerkte er, dass sie in Pergament eingeschlagen war und dass alte Tinte seinen Blintschik mit slawischer Spiegelschrift imprägniert hatte. Ein heiliges Buch war zerrissen worden, um Essen einzuwickeln. Verstohlen schielte er hinüber zu Semjonow, der mit prallen Wangen einen riesigen Happen bearbeitete. Nach kurzem Zögern biss er hinein und hoffte, damit keine Sünde zu begehen. Wie auch immer, es schmeckte köstlich, und so aß er weiter und bat den Herrn um Vergebung.
Vor dem Tomski-Stadion hing die rot-weiße Spartak-Fahne. Es erschien klein im Vergleich zur Sportanlage von Dynamo gleich gegenüber. Aber Größe war nicht alles. Für Koroljow war Spartak der Geist Moskaus, während Dynamo die Macht repräsentierte, die diesen Geist beherrschte. Auch wenn er indirekt für die Staatssicherheit arbeitete und sogar in Kitai-Gorod wohnte, blieb Koroljow durch und durch ein Presnaja-Junge. Hier war er geboren und aufgewachsen, und ein Verrat an seinem Viertel kam für ihn nicht infrage. Semjonow parkte vor dem Verwaltungsbau, und Koroljow bemerkte eine Gruppe erschöpft wirkender Spieler, die Atemfahnen hinter sich herzogen wie Eisenbahndampf. Neben ihnen marschierte eine vertraute Gestalt in einer alten grauen Flanellhose, einer grünen Jagdjacke und einem rot-weißen Schal. Dichtes braunes Haar umrahmte ein scharfgeschnittenes Gesicht, aus dem ihn bereits ein Augenpaar in der Farbe von altem Silber belustigt betrachtete. Auf Nikolai Starostins Lippen erschien ein breites Grinsen.
Koroljow hob grüßend die Hand. »Nikolai, wie ich sehe, treibst du deine Mannschaft immer noch so gnadenlos an wie früher.«
Von den Spielern kam ein gutmütig beifälliges Brummen, wobei sich besonders die zwei Starostin-Brüder Alexander und Andrei hervortaten.
»Geht schon mal ins Bad, Jungs«, sagte Starostin. »Ich muss mit diesem ehemaligen Spieler sprechen, auch wenn seine beste Zeit längst hinter ihm liegt.«
Andrei Starostin winkte fröhlich und folgte den anderen, von denen einige Koroljow ebenfalls zunickten, da sie ihn noch von früher kannten.
»In letzter Zeit haben wir dich nicht oft bei unseren Spielen gesehen. Hast du Angst, dass dir die Anhänger zusetzen?«
»Ich hatte viel zu tun. Und ich kann gut auf mich aufpassen, ich schäme mich nicht für meine Arbeit.«
»Ja, das weiß ich. Aber es ist wirklich schlimm. Wenn wir gegen Dynamo spielen, schreien sie: >Tötet die Terrier<, >Tötet den Abschaum<, und wenn wir gegen die Rote Armee antreten, heißt es: >Tötet die Landser< oder >Tötet die Pferdewäscher<. Das macht den Behörden Sorgen, und so etwas ist heutzutage nicht gut, und wenn wir ihre Mannschaften schlagen, kommt zur Kränkung auch noch die Schmach. Aber was sollen wir machen? Sie sind ihr eigenes Gesetz. Sie brüllen, was ihnen passt, und kümmern sich einen Dreck um die Konsequenzen.«
Koroljow lächelte. Er wusste alles über die raue Herzlichkeit auf den Tribünen, wenn Spartak gewann, und die kochende Wut, wenn das Spiel schlecht lief.
»Und wer tritt für euch gegen die Armee an? Die haben einen starken Sturm. Soll ich vielleicht nochmal meine Stiefel schnüren?«
Lächelnd legte Starostin den Finger an die Nase. »Das wird alles bekanntgegeben, Ljoschka, aber erst zur gegebenen Zeit. Doch wenn du willst, bekommst du eine Eintrittskarte, natürlich auf der Tribüne bei den zivilisierten Menschen, nicht unten auf den Stehplätzen. Von dort aus kannst du dem Spiel gut folgen, außerdem brauche ich jemanden, der auf meine Schwestern aufpasst. Wenn es gegen uns läuft,
Weitere Kostenlose Bücher