Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
seiner Rückkehr hatte Boris sich das Kind sehr genau angesehen. Aber Boris sah keinerlei Ähnlichkeit mit irgend jemandem.
    Unterdessen beobachtete er die beiden. Der Priester hatte ihm freundlich gratuliert, seine Frau hatte dem Priester leicht zugelächelt, der wie ein Beschützer neben ihr stand. War da doch eine engere Verbindung? Im Dezember war Fedor neun Monate alt geworden, und Boris kam zu dem Schluß, daß er mehr und mehr dem Priester glich. Nein, der kleine Kerl, der da auf dem hölzernen Fußboden umherkroch und ihn manchmal anlächelte, war nicht sein Sohn. Boris hatte aber noch nicht beschlossen, was er unternehmen würde. Er kam soeben vom Wachturm zurück und befand sich auf der Höhe der Kirche, als er ein Rufen vom Tor her hörte. Der Mönch Daniel sah sie zuerst: Zwei große Schlitten flitzten von Norden her den Fluß herunter. Jeder wurde von drei herrlichen Rappen gezogen. Sie fuhren über das Ufer genau auf die Klosterpforte zu. Erst aus der Nähe sah Daniel, daß die Männer in den Schlitten ganz in Schwarz gekleidet waren, und schließlich entdeckte er, daß es sich bei der hohen mageren Gestalt, die, in Pelze gehüllt, im ersten Schlitten saß, um Ivan handelte. Erschrocken bekreuzigte er sich und fiel auf die Knie.
    Wie üblich war der Zar von Alexandrovskaja Sloboda ohne Ankündigung gekommen. Sie fuhren in den Klosterhof, und die Mönche sahen erstaunt, wie Ivan ausstieg und langsam aufs Refektorium zuging. Er trug einen hohen kegelförmigen Pelzhut, und in der Rechten hielt er einen langen Stab mit einem goldsilbernen Knopf und einer Spitze, die tiefe Löcher in den Schnee bohrte. »Ruft euren Abt«, tönte die tiefe Stimme über den eisigen Hof. »Sagt ihm, der Zar sei hier.« Die Mönche zitterten, als sie dies hörten. Kaum fünf Minuten später waren sie alle im Refektorium versammelt. Vorn stand der Abt vor den achtzig Mönchen, darunter auch Daniel. Die zwölf opritschniki hatten sich an der Tür postiert; der Zar saß auf einem schweren Eichenstuhl und blickte die Mönche düster an. Nach kurzem Schweigen fragte er sehr ruhig: »Und mein treuer Diener Boris Davidov Bobrov – wo ist er?«
    »Oben in Russka«, antwortete einer. »Holt ihn!« lautete der Befehl.
    Einer der opritschniki verschwand. Nach langem Schweigen heftete der Zar seinen durchdringenden Blick auf den Abt. »Man hat dir eine Ochsenhaut geschickt. Wo ist sie?«
    Die Furcht des alten Abts konnte nicht größer sein als jene, die Daniel überkam. Wie er da Angesicht zu Angesicht vor dem Zaren stand, erschien ihm der einst so kühne Plan plötzlich erbärmlich, ja geradewegs ungehörig. Eiseskälte stieg in ihm auf. »Bruder Daniel wurde damit beauftragt«, hörte er den Abt antworten. »Er kann dir erklären, was er damit gemacht hat.« Daniel fühlte die Augen des Zaren auf sich ruhen. »Wo ist meine Ochsenhaut, Bruder Daniel?«
    »Wie du uns gestattet hast, Gosudar, haben wir damit ein Stück Land markiert, das, wenn Deine Majestät die Gnade hat, deinem treuen Kloster zugesprochen wird.« Ivan starrte ihn an. »Mehr wollt ihr nicht?«
    »Nein, großer Herr, das ist genug.«
    Der Zar erhob sich; er überragte alle anderen. »Laßt mich sehen!«
    Die Idee war genial. Schließlich hatte die Anordnung des Zaren gelautet, das Stück Land mit der Ochsenhaut einzugrenzen. Warum also sollte man sie nicht in Streifen schneiden? Besser noch: Warum die Streifen nicht nochmals auseinanderschneiden? Oder noch besser…
    Zu Ende des Sommers hatte Daniel sich mit den Mönchen an die Arbeit gemacht. Mit spitzen Kämmen und scharfen Messern trennten sie tagelang die Haut so auseinander, daß schließlich nur noch eine lange Faser übrigblieb. Diese wurde sorgfältig auf eine hölzerne Rolle gewickelt, und beim Abwickeln konnten damit ohne weiteres mehr als vierzig Hektar abgemessen werden. Daniel hatte das Areal am SanktNikolaus-Tag mit Pfählen abgesteckt. Nun stapfte er, die Rolle in der Hand, gefolgt von Ivan, dem Abt und den opritschniki, zur besagten Stelle. Soeben begann er, die Lederfaser abzurollen, als er Ivans Stimme vernahm: »Genug! Komm her!«
    Das war es also. Das bedeutete wohl sein Todesurteil. Als Daniel vor dem Zaren stand, faßte dieser ihn beim Bart. »Ein schlauer Mönch«, sagte er nicht unfreundlich. Er lächelte dem Abt zu. »Der Zar hält sein Wort. Ihr sollt das Land haben.« Unter inbrünstigen Gebeten verneigten sich die beiden Mönche tief.
    »Ich bleibe heute nacht hier«, fuhr Ivan fort. »Und wenn

Weitere Kostenlose Bücher