Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
Andrej blickte hinüber zu Marjuschka, und er dachte mit Freuden, daß er nun bald wieder mit ihr schlafen würde.
    Am Dienstag der »Hellen Woche«, wie die Woche nach Ostern in Moskau hieß, wurden die Kosaken endlich vom Patriarchen Nikon persönlich in seinem Palast empfangen. Erst jetzt, als er ihn aus der Nähe und ohne Mitra sah, wurde Andrej sich der beherrschenden Präsenz dieses Menschen bewußt.
    Der Patriarch war ungewöhnlich groß und hager. Jahre des Gebets und des strengen Fastens hatte ihre Spuren in seinem schmalen Gesicht hinterlassen. Die Augen blickten forschend. Der Patriarch behandelte die Kosaken bei aller Freundlichkeit durchaus geschäftsmäßig. »Wenn auch der Metropolit von Kiev genaugenommen im Rang unter dem Patriarchen von Konstantinopel steht«, sagte er, »kann und soll das Heilige Rußland ihm Schutz gewähren. Dazu bin ich entschlossen. Was die Kirche in Moskau anbelangt, so ist sie rückständig. Ich heiße unsere Brüder aus Kiev willkommen, die so vieles besitzen, was wir nötig haben.« Er blickte ernst in die Runde. »Ein neues Zeitalter dämmert herauf – das Zeitalter einer erneuerten und gereinigten Orthodoxie, angeführt von einem frommen Rußland. Ihr Kosaken werdet eine wichtige Rolle in der Verteidigung unseres orthodoxen Staates spielen. Ihr könnt euch deshalb darauf verlassen, daß ich eure Protektion durch den Zar befürworten werde«, schloß er.
    Andrej hatte plötzlich das Gefühl, nicht länger Rebell gegen Polen zu sein, sondern Diener einer wichtigen Sache. Am nächsten Tag traf Marjuschkas Mann ein. Andrej sah seine Geliebte kurz in Nikitas Wohnung, aber sie konnten nur ein paar Worte wechseln. Sie erzählte, daß sie in drei Tagen mit ihrem Mann nach Russka zurückkehren müsse. »Ich werde dich also nicht wiedersehen«, sagte sie leise.
    Andrej war überrascht, welche Wirkung diese Nachricht auf ihn hatte. Eine merkwürdige Traurigkeit bemächtigte sich seiner, eine unbekannte Schwermut. Bald wurde ihm bewußt, daß es nicht deshalb war, weil sie ihm soviel bedeutete, sondern weil er Angst um sie hatte. Dabei dachte er nicht nur an den Verwalter und was dieser ihr antun könnte. Es ist etwas in ihr selbst, weswegen man Sorge um sie haben muß, dachte er. Er fürchtete um die Frau, die sich auflehnen wollte in einem Land, in dem jeder zu gehorchen hatte. Ein kurzer Aufschub ergab sich jedoch am nächsten Morgen, als Burlaj, der Chef der Mission, erklärte, ihre Arbeit sei so gut wie erledigt und sie könnten bald nach Hause zurückkehren. »Wie bald?« wollte Andrej wissen. »In etwa einer Woche.«
    »Dann möchte ich um etwas bitten«, sagte er. »Gut«, meinte Burlaj, als er ihn angehört hatte, »sofern der Grundbesitzer nichts dagegen hat.«
    Und so traf Andrej Anstalten, Marjuschka nach Nordrußland zu begleiten.
    Nikita Bobrov wunderte sich über Andrejs Wunsch, den Besitz zu besuchen, bis er von seiner Bindung an diesen Ort hörte. »Mein lieber Freund, Ihr meint also, Euer Großvater lief von meinem Besitz fort?« lachte er. »Wie schade, daß er sich nicht erst später aus dem Staub gemacht hat; wäre das bei einer kürzlichen Zählung passiert, könnte ich Euch wahrscheinlich zurückverlangen. Habt Ihr die ulozenie schon einmal gesehen?« Andrej verneinte.
    »Nun, dann zeige ich sie Euch.« Etwa 2400 Exemplare dieses Kodex von 1649 waren gedruckt worden – eine große Menge für jene Zeit –, und Nikita besaß eines davon. Der Text war in einfachem Russisch abgefaßt und für jedermann verständlich. Nikita blätterte. »Hier haben wir es«, meinte er und schlug Kapitel elf auf.
    Und nun verstand Andrej, was es bedeutete, ein russischer Bauer zu sein. In vierunddreißig Klauseln waren die Rechte jeder nur denkbaren Facette geregelt. Der Herr konnte einen entlaufenen Bauern nicht nur jederzeit zurückfordern, er konnte auch seine Ehefrau, die Kinder, deren Ehepartner und Kinder als sein Eigentum beanspruchen. Ein Herr durfte zwar einen Bauern nicht mit Vorbedacht töten, geschah es jedoch in einem Wutanfall, so galt das nicht als ernstes Vergehen. Tötete er in Wut den Bauern eines anderen Herrn, hatte er ihn zu ersetzen. Andrej wollte weitere Kapitel sehen. Alles war gesetzlich geregelt, von Blasphemie bis zu Fälschungen, von klösterlichem Landbesitz bis zu illegalen Schenkungen.
    Als Andrej diesen strengen Kodex las, mußte er sich beschämt eingestehen, daß er während seines Aufenthaltes das Leben in Moskau nur sehr oberflächlich

Weitere Kostenlose Bücher