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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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mittelgroß, und seit einem Unfall in seiner Kindheit hinkte er leicht. Wenn Silas auch nicht durch körperliche Erscheinung beeindruckte, so hatte ihn doch seine leidenschaftliche Entschlossenheit großes Ansehen bei den Bauern eingebracht.
    Während seiner Studienzeit in Niznij Novgorod kam er mit Priestern in Berührung, die sich gegen die Reformen stellten. Das war nicht verwunderlich. Niznij Novgorod war nicht nur ein wichtiges Handelszentrum, sondern auch immer noch Grenzstadt. Hier gab es nach wie vor abgelegene Gemeinden, in denen einfache Russen lebten, die das Bauholz in den Wäldern mit ihren Äxten schlugen und sich mit ganzem Herzen für ihren Herrn einsetzten.
    In der Nähe von Niznij Novgorod hatte sich auch die Familie eines großen Reformgegners, des Priesters Awakum, niedergelassen. Silas war dort als Diakon tätig gewesen und hatte eine Verwandte des hitzigen Priesters kennengelernt und geheiratet. Silas war kein gebildeter Mann, wenn er auch für das Studium lesen gelernt hatte. Seine Einwände gegen die Reformen waren nicht geistigen Ursprungs wie die des Abtes, sondern seine Besorgnis war irrational und rein instinktiv. Er hatte das Gefühl, Rußland werde sein Herz verlieren und die russische Seele solle verführt werden. Und schuld daran sei ein Außenseiter. Warum braucht der Zar so viele Ausländer? fragte er sich wieder und wieder. Warum werden unsere Truppen von Deutschen befehligt? Warum holt der Zar Handwerker aus dem Ausland? Und warum ist es den Bojaren erlaubt, Musikinstrumente im Haus zu haben? Seiner kleinen Gemeinde erklärte Silas daher: »Brüder und Schwestern im Herrn! Für uns einfache Russen ist nur eines wichtig, und das ist nicht irdisches Wissen. Wohin sollen uns weltliches Wissen und Schlauheit führen, wenn nicht in noch größere Sünde? Denn was wissen wir Menschen schon, verglichen mit der Weisheit Gottes? Für uns zählt nur Frömmigkeit, Gottergebenheit. Es ist die heilige Inbrunst in jedem von uns, Gott treu zu dienen. Nur darauf kommt es an.« Und dann beendete er seine Predigt mit einem Begriff, der für lange Zeit für jeden Russen große Bedeutung haben sollte: »Wir müssen mit blagotschestje leben.« Das Wort bedeutete: Frömmigkeit, inbrünstige Andacht, Treue, Anhänglichkeit. Es hatte immer mit dem Zaren im alten Moskauer Staat zu tun – mit dem frommen Zaren. Für Männer wie Silas bedeutete es vor allem Anhänglichkeit an die alten Bräuche, die heilige Tradition. Und die Folge dieser Prinzipien war die konsequente Ablehnung der nüchternen westlichen Welt, in die sie – die einfachen Leute glaubten es jedenfalls – von der Obrigkeit hineingezogen werden sollten. Deshalb hielt Silas in seinem Dorf an den alten Riten fest, obwohl es gefährlich war. Die Moskauer Obrigkeit verlangte unbedingten Gehorsam. Als der Abt des berühmten Soloveckij-Klosters am Weißen Meer seine Mönche angewiesen hatte, die liturgischen Reformen nicht zu beachten, auch nicht für den Zaren zu beten, wurden die widerspenstigen Kirchenleute von Soldaten massakriert. Niemand wußte, wie viele andere Gemeinden ebenso verfuhren, doch hatte es den Anschein, als wachse die Untergrundbewegung. Bisher hatte man dem kleinen Dorf von offizieller Seite keine Beachtung geschenkt. Aber wie würden Silas und seine Gemeinde sich verhalten, wenn man auf sie aufmerksam würde? Keiner wußte es, doch Arina hatte Angst.
    Im Frühling des Jahres 1677 erschien an einem feuchtkühlen Tag ein Fremder in Russka. Wie alle Durchreisenden erhielt er im Kloster Unterkunft und Verpflegung. Er stellte sich lediglich als Daniel vor, gab jedoch keine weitere Auskunft über seine Person. Auf die Frage, woher er komme, antwortete er nur: »Aus Jaroslavl.«
    Diese alte Stadt stammte, wie andere nordöstliche Städte – Vladimir, Rostov, Suzdal – aus Kiever Zeiten. Sie lag an der Schleife der Wolga, und dahinter dehnte sich der Taigawald. Das Emblem auf dem Stadtwappen war dementsprechend ein Bär mit einer Axt. Der Fremde war groß, hatte struppiges Haar, einen dichten, graumelierten Bart und eine große Nase. Meist saß er stumm da und starrte vor sich hin, oder er fütterte die Vögel. Obwohl seine Bewegungen sanft waren, sah man ihm an, daß er außerordentliche Kräfte besaß.
    Die Leute fragten sich, was er hier zu suchen hatte. Er brachte eine kleine Geldsumme mit, außerdem eine winzige Ikone, ein schmales Psalmenbuch, in dem er offensichtlich lesen konnte. Trotzdem behauptete er, kein Priester zu

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