Russka
Vaters als militärischer Befehlshaber stolz bewußt. Wenn die Bobrovs in ihrem Haus Gäste hatten, hielt Eudokia sich abseits, bis man sie rief, um den Männern nach dem Essen Kognak zu servieren. Und wenn sie die Gäste begrüßt hatte, zog sie sich sofort wieder diskret zurück. Im Privatleben jedoch, mit anderen Frauen oder mit ihrem Mann, tat sie ohne Hemmung ihre Meinung kund. Sie erklärte, ein Mann ohne Bart sehe aus wie ein gerupftes Huhn. Westliche Musik und Schauspiel hielt sie für Barbarei. Vor allem hegte sie eine tiefe Verachtung für die Armee des Zaren, die von ausländischen Offizieren befehligt wurde. Auch die Feldzüge des Zaren fanden keine Gnade vor ihren Augen. Nach Nikitas Ansicht war die Einverleibung der Ukraine und der Vorstoß in polnische Territorien im Westen ein Segen für Rußland, doch seine Gattin war anderer Meinung. »Krieg ist eine Sünde gegen unsere armen Bauern«, urteilte sie.
Zu diesem Zeitpunkt standen hunderttausend Mann unter Waffen. Das Militär beanspruchte zweiundsechzig Prozent des Staatshaushaltes, und wie immer wurden die Steuern den Bauern aufgebürdet. »Wenn es so weitergeht, gibt es bald wieder eine Rebellion wie unter Stenka Razin«, prophezeite Eudokia. Sie bestand darauf, daß ihre Dörfer jedes Jahr kontrolliert werden mußten, was Nikita für überflüssig hielt und als lästig empfand. Seine Frau sprach persönlich mit den Landbewohnern und verteilte häufig Geld.
Nikita wunderte sich nicht, daß Eudokia mit ihrer konservativen Einstellung in religiöser Hinsicht mit den raskolniki sympathisierte. Sie stand damit unter den adligen Damen jener Tage nicht allein. Auch die erste Gemahlin des Zaren war Befürworterin des alten Ritus gewesen. Eine kleine Gruppe prominenter Damen, eine davon gehörte der bekannten Bojarenfamilie der Morozovs an, unterstützten die Nachfolger von Awakum und wanderten für ihre Überzeugung sogar ins Gefängnis. Doch derlei Sympathiebekundungen galten in der noblen Klasse als unmodern und wurden auch immer gefährlicher, und deshalb wies Nikita seine Frau an, ihre Gedanken für sich zu behalten.
Die Schwierigkeiten begannen für Nikita Bobrov mit dem plötzlichen Tod des Zaren Aleksej, der einen in zwei Lager gespaltenen Hof zurückließ.
Von seiner ersten Gemahlin waren ihm mehrere Töchter geblieben und zwei Söhne: Fedor, freundlich, aber kränklich, und Ivan, geistig zurückgeblieben und mit einer starken Sehschwäche geschlagen. Mit seiner zweiten Gemahlin – von einfacher Herkunft – hatte er zwei bei seinem Tod noch minderjährige Kinder, ein kleines Mädchen und Peter, einen Jungen von drei Jahren. Die Familie der ersten Frau des Zaren, die mächtigen Miloslavskijs, war keineswegs erfreut über die Familie der zweiten Frau, die bescheidenen Naryschkins. Vor allem aber haßten sie Matveev, jenen Freund des Zaren. Der junge Fedor wurde Zar. Peter und seine Mutter erfuhren zwar freundliche Behandlung, doch die Miloslavskijs rissen alle Macht an sich. Binnen kürzester Zeit fanden sie einen Vorwand zur Festnahme Matveevs.
Nikita Bobrov hatte damit einen mächtigen Gönner verloren. Doch das bedeutete noch nicht die Katastrophe. Er war nicht wichtig genug, um den Miloslavskijs Kopfzerbrechen zu bereiten. Und er hatte auch andere Freunde. Wäre nur nicht jener fatale Wortwechsel mit dem jungen Tolstoj gewesen…
Der Kolomenskoje-Palast lag nicht weit von Moskau auf einem sanft ansteigenden Gelände am Fluß. Seit Generationen diente er den Zaren als Sommerresidenz, und Aleksej hatte neben den Steinkirchen und Glockentürmen eine ausgedehnte Anlage von Holzhäusern und öffentlichen Gebäuden errichten lassen, die auf das Auge ebenso fremdartig wirkten wie die bizarren Kuppelformen der Basilius-Kathedrale in Moskau. Ausladende Gewölbe, hohe Zeltdächer, riesige Zwiebelhauben und massive Außentreppen – eine Orgie russischer Bauformen mit überreicher Ornamentik. An einem sonnigen Sommertag – Zar Fedor regierte schon einige Jahre – traf Nikita auf einem Spaziergang in den Gärten vor dem Kolomenskoje-Palast Peter Tolstoj.
Warum war ihm dieser Kerl nur so unangenehm? Tolstoj war von kräftiger Statur, hatte dichte schwarze Augenbrauen und stechende Augen. Vielleicht war er zu intelligent, vielleicht aber auch nur schlau. Er war etwa zehn Jahre jünger als Nikita, aber er wußte auf alle Fälle mehr.
Wie Tolstoj nun neben ihm dahinging, spürte Nikita Ärger in sich aufsteigen. Er hörte erst nur mit halbem Ohr zu,
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