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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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sechs Meter hoch, und in der Mitte funkelte ein gigantischer Kronleuchter. Das glänzende Parkett setzte sich aus mindestens zwölf verschiedenen Holzarten zusammen.
    Alexander kannte viele der Gäste. Da waren ein deutscher Professor, ein englischer Kaufmann, zwei junge Schriftsteller, ein vornehmer alter General, ein noch älterer Fürst. Es gehörte zu den Vergnügungen von St. Petersburg, daß man in solchen aristokratischen Kreisen Menschen aus allen Nationen und Klassen traf. Es war schon eine lange Tradition, daß diese Leute einmal wöchentlich im großen Turov-Haus auf der Vassiljev-Insel zusammenkamen. Der Graf war ein bemerkenswerter Mann gewesen. Er hatte dreißig Jahre zuvor zusammen mit dem berühmten Schuvalov die Moskauer Universität gegründet. Die Schriftsteller um die Mitte des 18. Jahrhunderts – die erste intellektuelle Gruppe in Rußland – zählten ihn zu ihrem Freundeskreis; selbst Lomonossov, der erste russische Philosoph und Wissenschaftler, suchte ihn des öfteren auf. Turov war weit gereist – er hatte sogar Voltaire besucht, und von überall aus Europa hatte er kostbare Gemälde, Skulpturen und Porzellan mitgebracht, ebenso wertvolle Bücher, die immer noch in der Bibliothek des Hauses standen. Die Gräfin, eher eine geschwätzige Natur, hatte im Lauf ihres Ehelebens einige seiner Gedanken übernommen und hing nun an diesen Dingen mit einer Zähigkeit, die im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Intelligenz stand. Sie führte ein offenes Haus für Intellektuelle, die sich – teils aus Gewohnheit, teils amüsiert durch das exzentrische Gehabe der Gräfin – weiterhin bei ihr einfanden.
    Nichts jedoch reichte an den Hauptgegenstand ihrer konstanten Verehrung heran. Während sie ihren verstorbenen Gemahl hoch achtete, hatte sie ihrem größten Helden, Voltaire, eine wahre Kultstätte errichtet. Eine seiner Büsten stand auf einem Sockel in der großen Marmorhalle, eine zweite auf dem Absatz des weitläufigen Treppenhauses. Sein Porträt hing in der Galerie im oberen Stockwerk, eine dritte Büste hatte ihren Platz in einer Ecke des Salons. Der große Philosoph war ihre Ikone.
    Aus Achtung vor Voltaire, Diderot und anderen französischen Philosophen der Aufklärung wurde im Haus der Turova nur Französisch gesprochen. Man mußte sich gut überlegen, was man sagte, denn die alte Dame gefiel sich darin, andere bloßzustellen. Ihr Lieblingsspruch lautete: »Vorsicht, Monsieur, ich schlafe mit offenen Augen.«
    Jetzt jedoch berührte sie leicht Bobrovs Arm. »Entfernen Sie sich nicht zu weit, mon chér Alexandre; ich brauche Sie heute abend unbedingt. Im Augenblick sind Sie entlassen. Ich sehe, da wartet jemand auf Sie.« Alexander wandte sich um. Und lächelte.
    Das Haus der Gräfin Turova war großzügig angelegt und hatte einen klassischen Portikus zwischen zwei Flügeln. Die Räume des tiefer liegenden Erdgeschosses hatten in etwa Straßenniveau; viele Adlige mit ähnlichen Räumlichkeiten vermieteten diese an vornehme Kaufleute und Ladenbesitzer. Die Gräfin dagegen zog es vor, das Haus allein mit ihren Bediensteten zu bewohnen. Mit einer Ausnahme allerdings: Eine verwitwete Französin, Madame de Ronville, durfte eine Zimmerflucht im Ostflügel bewohnen. Dies kam der Gräfin sehr gelegen: Madame war zwar keine bezahlte Gesellschafterin, jedoch darauf angewiesen, daß die Miete für die hübsche Wohnung niedrig blieb – und so war es selbstverständlich, daß sie der Gräfin jederzeit zur Unterhaltung zur Verfügung stand. »Es ist für sie höchst angenehm in meiner Nähe«, war die selbstgefällige Meinung der Gräfin. Auch für Alexander Bobrov war die Situation angenehm: Madame de Ronville war seine Geliebte. Konnte es eine charmantere Person in St Petersburg geben? Sie waren seit zehn Jahren ein Liebespaar, und obwohl sie fast fünfzig Jahre zählte, war er ihrer noch nicht überdrüssig. Adelaide de Ronville trug ein rosafarbenes Seidenkleid, das in der Taille eng eingehalten war und sich über einem Reifrock öffnete. Die Corsage war mit applizierten Seidenblumen verziert, was die vornehmen Franzosen als complaintes indiscrètes bezeichneten. Das Haar war gelackt und gepudert und auf reizende Weise von zwei kleinen Diamantenspangen gekrönt. Als sie schweigend neben ihm stand, wurde er sich ihres schmalen weißen Körpers bewußt, der unter der seidenen Hülle verborgen war. Ihre großen blauen Augen strahlten vor Vergnügen, während sie Alexander die Situation erklärte. »Ihre

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