Russka
Handlungsmöglichkeiten beschränkt sind«, parierte der General. Die Gräfin schien ungeduldig: »Zweifellos würden Sie demnach den Großfürsten Paul als Regenten vorziehen?« Bobrov lächelte. Großfürst Paul, Katharinas einziger legitimer Sohn, war für die Gräfin ein Objekt abgrundtiefen Hasses. Er war ein merkwürdiger, übellauniger Bursche und eiferte dem ermordeten Zaren Peter III. nach. Er verabscheute die Kaiserin, weil sie ihm die Söhne genommen hatte, und erschien selten bei Hof. Er war ein von militärischer Disziplin Besessener und hatte kein Interesse an der Aufklärung; es ging das Gerücht, Katharina werde ihn eines Tages bei der Thronfolge zugunsten seiner Söhne übergehen. Trotzdem würde kein vernünftiger Beamter wie der General schlecht über einen Mann sprechen, der vielleicht eines Tages doch der Herrscher sein würde. Klugerweise sagte der alte Mann also nichts.
Bobrov ließ nicht locker: »Um auf die Zensur zurückzukommen – welchen Schaden kann ein Theaterstück praktisch anrichten?«
»Wahrscheinlich keinen«, gab der General zu, »doch ich habe etwas gegen das Prinzip der freien Rede. Sie unterstützt den Geist der Opposition um ihrer selbst willen. Die größte Gefahr aber ist nicht die Wirkung auf das Volk, sondern auf seine Herrscher. Wenn nämlich eine sogenannte aufgeklärte Regierung meint, sie müsse ihre Handlungsweise mit Vernunft rechtfertigen, glaubt sie moralisch verpflichtet zu sein, aus jeder Auseinandersetzung siegreich hervorzugehen. Was geschieht nun, wenn eine mächtige und zielgerichtete Gruppe, die sich nicht um Auseinandersetzung und freie Rede kümmert, sich gegen eine solche Regierung stellt? Sie wird hilflos. Es hat keinen Sinn, einen Philosophen zu bitten, uns gegen Tschingis Khan zu verteidigen.«
»Immerhin fielen die Tataren in Rußland ein, weil es nicht einig war«, gab Bobrov zu bedenken. »Ich glaube, daß heutzutage und in Zukunft nur solche Regierungen stark und einig sind, die das Vertrauen eines freien Volkes haben.«
»Dem stimme ich nicht zu«, widersprach der General. »Freiheit schwächt.«
»Sie fürchten das Volk?« Bobrovs Stimme klang klar durch den Raum.
»Ja, gewiß. Denken Sie nur an Pugatschev.« Es war, als käme ein Aufseufzer von den Umstehenden. Seit dem letzten schrecklichen Bauernaufstand unter der Führung des Kosaken Pugatschev waren erst zwölf Jahre vergangen. Wie Razins Aufstand war er wegen fehlender Strategie und Organisation niedergeschlagen worden, doch hatte er den gesamten russischen Adel und die kaiserliche Regierung wieder einmal an den düsteren Satz erinnert: Das Volk ist gefährlich, und wir müssen es fürchten. Mehr brauchte man also nicht zu sagen als: Denken Sie an Pugatschev.
Der General fuhr fort: »Rußland ist groß und rückständig, ein Imperium aus Dörfern. Nur ein starker Autokrat kann es gemeinsam mit dem Adel zusammenhalten. Die Kaufleute und Bauern haben keine gemeinsamen Interessen mit dem Adel, und wenn man sie miteinander debattieren läßt, wird es zu keiner Einigung kommen. Unsere aufgeklärte Kaiserin weiß das nur zu gut.« Es stimmte, daß Katharina als Autokratin regierte. Der von Peter eingesetzte Senat und Rat ratifizierten lediglich ihre Entscheidungen. Was die Debatten anbetraf: Als Katharina bei dem Versuch, Rußlands veraltete Gesetze zu reformieren, einen Rat von Vertretern aller Klassen einberief, lehnten diese es ab, miteinander zu arbeiten, und so wurde der Rat aufgelöst. »Diese Dinge brauchen Zeit«, beschwichtigte Bobrov. »Nein. Der Adel ist der einzige Stand in Rußland, der fähig ist zu regieren«, beharrte der General. »Er hat seine Privilegien, weil Rußland sie braucht. Wollen wir sie denn verlieren?« Der von Peter eingesetzte Adelsstand hatte dem Staat zu dienen, und er war stolz darauf. Katharina, die die Unterstützung der Adligen brauchte, hatte ihnen die Gemeindeverwaltung übertragen. Die im vergangenen Jahr verabschiedete Verfassungsurkunde hatte sie mit allen nur möglichen Privilegien ausgestattet. Kein anderer Stand durfte Land besitzen. Adlige bezahlten keine Steuern. Sie durften nicht ausgepeitscht werden. Sie durften sogar ins Ausland reisen. Auf diese Weise hatte der General strategisch geschickt an die persönlichen Interessen der meisten Anwesenden appelliert. Privilegien sind eine Sache – Philosophie eine andere. Es war an der Zeit für Alexanders Gegenangriff. »Sie vergessen dabei die Naturgesetze.«
Die Gräfin lächelte erleichtert.
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