Russka
beiden Stars des heutigen Abends, Radischtschev und Fürstin Daschkova, sind nicht erschienen«, flüsterte sie. »Also müssen Sie Hauptakteur – und ihr Gladiator sein. Viel Glück!«
Das hatte sich ja fabelhaft getroffen. Jetzt kann ich ihr so einen Gefallen erweisen, daß sie mir schließlich alles hinterlassen wird!
Es gab wahrscheinlich im ganzen aufgeklärten St. Petersburg keine geistreicheren Personen als die Fürstin Daschkova und den Schriftsteller Radischtschev. Sie war eine furchtlose Verfechterin freiheitlicher Ideen, und die Kaiserin hatte sie an die Spitze der russischen Akademie gestellt. Radischtschev verfaßte großartige Essays. Wie gut für ihn, Alexander, daß die beiden nicht gekommen waren. Denn trotz all seiner Bemühungen war Alexander sich nie sicher, ob die alte Gräfin ihn überhaupt ernst nahm. Seine Artikel wurden weithin gelobt. Er hatte sogar, wie Radischtschev, anonyme Artikel für Zeitschriften über gewagte Themen wie etwa die Demokratie oder die Abschaffung der Leibeigenschaft geschrieben, die selbst in Katharinas aufgeklärtem Rußland immer noch zu radikal für eine öffentliche Diskussion waren. Er hatte ihr diese Artikel gezeigt und ihr gegenüber das Geheimnis der Urheberschaft gelüftet. Trotzdem wußte er nicht, ob er sie damit beeindruckt hatte. Die Rolle des Gladiators, wie die ständigen Gäste der Gräfin Turova das nannten, war immer die gleiche. Während in anderen Salons die subtile Kunst der kultivierten Debatte gepflegt wurde, liebte es die Gräfin, wenn man sich in ihrem Beisein regelrechte Schlachten lieferte. Das Opfer war jedesmal ein argloser Neuling mit konservativen Ansichten, der einem Mann der Aufklärung gegenübergestellt wurde – ihrem Gladiator –, dessen Aufgabe es war, den Gegner außer Gefecht zu setzen und zu demütigen. Alexander blickte zur Gräfin hinüber und sah, daß sich um sie bereits ein Kreis von Gästen bildete. Zu ihrer linken bemerkte er einen neuen Gast, einen General, einen gewandt wirkenden, grauhaarigen Mann, klein, doch sehr aufrecht, mit durchdringenden dunklen Augen. Er war vermutlich das Opfer. Das Ergötzliche an solchen Abenden war, daß die Gräfin ohne viele Umschweife auf ihr Ziel lossteuerte. Sie packte sozusagen einen der Kampfhähne und hetzte ihn auf sein Gegenüber. In diesem Augenblick nun wandte sie sich dem General zu: »Ich höre, daß Sie alle unsere Theater zu schließen wünschen«, sagte sie vorwurfsvoll.
Der alte Herr starrte sie überrascht an. »Keineswegs, verehrte Gräfin. Ich sagte nur, daß man in einem Stück zu weit gegangen sei und daß es deshalb abgesetzt werden sollte. Es war aufrührerisch.«
»Das sagen Sie. Und was meinen Sie, Alexander Prokofievitsch?« Nun war er an der Reihe. Alexander liebte diese Debatten. Wenn auch die Gräfin selbst oberflächlich sein mochte – bei den Diskussionen in ihrem Salon ging es häufig um wichtige Themen, die Rußland und seine Zukunft betrafen. Aus diesem Grunde hoffte er, den General zur Strecke zu bringen, dabei war es ihm aber auch darum zu tun, ein würdiger Gegner zu sein. Die Gräfin hatte das Thema vorgegeben: Freiheit der Rede. Das war der Grundtenor der Aufklärung, den auch die Kaiserin persönlich vertrat. Sie hatte nicht nur die private Presse offiziell anerkannt, sondern auch selbst Gesellschaftssatiren für die Bühne verfaßt. Nun also begann die Debatte.
»Ich bin gegen die Zensur«, begann Bobrov. »Wenn Menschen die Freiheit der Rede haben, wird die Stimme der Vernunft am Ende siegen. Außer natürlich, Sie glauben nicht an die Existenz menschlicher Vernunft.«
Die Gräfin hakte nach. »Glauben Sie daran, General?« Der General, der die Kampfregeln noch nicht kannte, antwortete offen: »Nicht unbedingt.«
»Die Geschichte mag ja auf Ihrer Seite sein, aber wie steht es mit der Zukunft? Menschen können sich ändern, und damit auch die Art und Weise, in der sie regiert werden. Denken Sie doch nur daran, wie die Kaiserin ihre Enkel erziehen läßt. Lehnen Sie das etwa ab?« Bobrov war zufrieden mit sich.
Es war allgemein bekannt, daß Katharina sich persönlich um ihre Enkelsöhne Alexander und Konstantin kümmerte. Sie hatte ihnen einen demokratisch gesinnten Schweizer Erfinder besorgt, der sie lehrte, aufgeklärte Herrscher des riesigen Imperiums zu werden, das sie ihnen zu hinterlassen gedachte.
»Ich bewundere die Kaiserin. Doch wenn ihr Enkel regiert, ob er nun aufgeklärt ist oder nicht, wird er feststellen, daß seine
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