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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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den Erwachsenen, die daraufhin in Gelächter ausbrachen. Zu Olgas Erleichterung verging mehr als eine Woche ohne Zwischenfall. Jeder wußte, daß man Sergej und Alexej voneinander fernhalten mußte. Alle paßten auf.
    Sie hatte vergessen, wie amüsant Sergej war. Er erzählte ihr Skandalgeschichten über gefährliche Situationen, Duelle und gesetzeswidrige Angelegenheiten von allen möglichen Leuten in Moskau und St. Petersburg, und dabei schmückte er die Einzelheiten derart aus, daß sie sich lachend an seinen Arm klammerte. Eines Abends fragte sie ihn neugierig nach seinem Liebesleben. Ob er viele Frauen gehabt habe? Jede Antwort hatte sie erwartet, aber nicht das, was nun kam. Sergej führte sie in eine stille Ecke, zog ein Büchlein aus seiner Tasche und reichte es ihr. Auf jeder Seite gab es zwei Spalten von Namen, jeder mit einem kleinen Kommentar versehen. »Meine Eroberungen«, erklärte er. »Die auf der linken Seite sind platonische Freundschaften, die auf der rechten Seite habe ich wirklich gehabt«, erklärte er.
    So offen Sergej im allgemeinen war, so hatte er doch ein Geheimnis, über das er mit niemandem sprechen konnte. Wenige Tage vor seiner Abreise war er mit seinem Diener, einem Leibeigenen vom Gut in Russka, in Moskau unterwegs, als er plötzlich Sawa begegnete. Er war so überrascht, daß er, ehe er überhaupt überlegte, schon ein paar unbedachte Worte geäußert hatte, Worte, die unter Umständen großen Schaden anrichten konnten. Er war nicht sicher, wieviel der Knecht davon begriffen hatte. Deshalb sagte er nur: »Was du auch denken magst – du hast nichts gehört, sonst setzt es Prügel. Verstanden?« Dann hatte er dem Mann ein paar Rubel gegeben, um sein Schweigen zu kaufen.
    Sergej verliefen die Sommertage ein wenig zu ruhig. Deshalb schlug er vor, sie sollten Theaterstücke aufführen. Er hatte in der Bibliothek französische Übersetzungen von ShakespeareStücken entdeckt. »Ilja und ich werden ein paar Szenen ins Russische übertragen«, erklärte er. »Dann können wir sie alle zusammen spielen.« Dann hätten sie endlich etwas zu tun. Selbst Alexej war einverstanden.
    Nur Olga hatte ungute Vorahnungen – sie sah Probleme zwischen den so ungleichen Brüdern voraus. Doch zunächst bescherte ihr diese neue Beschäftigung zwei überaus angenehme Überraschungen.
    Die erste betraf Ilja. Olga hatte nie viel von ihrem ältesten Bruder gehalten. Vor fünf Jahren hatte die ganze Familie gehofft, seine Europareise werde seine Gesundheit bessern und ihn zu einer Arbeit anregen. Tatsächlich kam er von seinem Aufenthalt in Frankreich, Deutschland und Italien schlanker und zielstrebiger zurück. Er bekam sogar einen guten Posten in St. Petersburg, und es sah so aus, als habe er eine Karriere vor sich. Aber nach knapp einem Jahr war dann alles vorbei: Er kündigte, verließ die Hauptstadt und kam nach Russka zurück. Er hatte zwar versucht, in Angelegenheiten der Provinz tätig zu werden, verlor jedoch bald den Mut. Eine Art Lethargie lähmte ihn. Da war er nun, stand selten vor dem Mittag auf und las den restlichen Tag.
    Aber jetzt, bei den Vorbereitungen für die Theateraufführungen, war er von einem Enthusiasmus erfüllt, den Olga nie an ihm gesehen hatte. Stundenlang arbeitete er mit Sergej. Sein sonst so ruhiges Gesicht zeigte verbissene Konzentration. Während Sergej niederschrieb, was er diktierte, watschelte er umher und fuchtelte aufgeregt mit den Händen. »Er übersetzt. Ich poliere«, erklärte Sergej.
    »Er macht das fabelhaft.« Zum erstenmal bekam Olga eine Ahnung von dem, was Ilja eigentlich hätte sein können. Das Theaterspielen begann in heiterer Stimmung. An den langen warmen Abenden trafen sie sich unter einem Lindenbaum vor dem Haus und probten ihre Rollen. Ihr erster Versuch waren einige Szenen aus »Hamlet« mit Sergej als Hamlet und Olga als Ophelia. Tatjana kam dazu, und Alexej verkörperte Hamlets bösen Onkel. Karpenko und Pinegin teilten die übrigen Rollen zwischen sich auf.
    Die zweite Überraschung freute Olga sogar noch mehr. Ilja hatte zwar die Übersetzung gemacht, doch Sergej hatte sie in russische Verse gebracht, und zwar glänzend. Und Sergejs Stimme klang zudem noch wunderschön. Plötzlich entdeckte Olga unter der frivolen Oberfläche einen anderen Sergej, eine lyrische Natur. »Du mußt weiter schreiben, Serjoscha, du hast Talent.« Alexejs Spiel war zwar steif, doch nicht allzu schlecht. Aber seine Sprache war miserabel. Während Ilja und Sergej als

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