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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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und zeigte ihm stolz die kleine Rublev-Ikone, die die Bobrovs vor langer Zeit gestiftet hatten. Obwohl Pinegin wenig sprach, schien er doch beeindruckt. Das zweitemal nahm Olga den kleinen Mischa mit. Er hatte eine seltsame Scheu vor Pinegin und wollte nicht neben ihm gehen. Auf dem Rückweg aber, als er zu müde zum Gehen war, nahm der Soldat ihn auf die Schultern und trug ihn nach Hause. So vergingen die Tage: Pinegin war manchmal mit dem Gewehr frühmorgens draußen; Ilja mit einem Buch; spätnachmittägliche Spaziergänge; und abends wurde Karten gespielt. Es war die reinste Sommeridylle. Das einzige, was Olga in diesen Tagen Anlaß zur Sorge gab, betraf den Besitz. Eigentlich war es mehr eine Folge von Kleinigkeiten, die sich, Olgas Ansicht nach, einfach in Ordnung bringen ließen – wenn Alexej damit einverstanden wäre. War nämlich eine Anschaffung nötig – ein neuer Wagen oder eine Pumpe –, so gab er dem Knecht die schroffe Anweisung, sich mit den alten Sachen mehr Mühe zu geben. Außerdem ließ Alexej rascher abholzen als aufforsten. »Disziplin ist nötig, nicht Geld«, war sein Motto. »Ich kümmere mich während seiner Abwesenheit um alles«, erzählte Tatjana ihrer Tochter, »aber er läßt mich keine Verbesserungen vornehmen. Und natürlich wirft das Gut weniger ab, seit die Suvorins nicht mehr da sind«, räumte sie ein.
    Zwei Jahre zuvor war aus Sibirien die Nachricht vom Tod Ivan Suvorins eingetroffen. Von Sawa hatte man nie wieder etwas gehört. Olga war zwar traurig über diese Anzeichen von Vergänglichkeit in ihrem früheren Zuhause, aber sie machte sich keine übermäßigen Gedanken, sondern genoß die heiteren Sommertage. Als einen positiven Charakterzug Alexejs betrachtete seine Mutter seinen regelmäßigen sonntäglichen Kirchenbesuch. Es war nur natürlich, daß er erwartete, von allen im Haus begleitet zu werden. Er ging allerdings nicht in die kleine Holzkirche des Ortes, wo einmal wöchentlich ein Priester von auswärts die Messe las, sondern in die alte Steinkirche am Marktplatz in Russka. »Ich würde ja mitkommen«, meinte Ilja verdrossen, »wenn nicht dieser verdammte Priester wäre.«
    Der Priester in Russka, das muß gesagt werden, war kein angenehmer Mensch, groß, aufgeblasen, rothaarig und mit einer Nachkommenschaft, die, so hieß es, auf dem Markt Lebensmittel stahl. Der Priester selbst ließ keine Gelegenheit aus, bei der es um Essen oder Geld ging. Doch Alexej stand jeden Sonntag unerschütterlich die lange Messe durch, um den Segen von der großen, fetten Hand zu empfangen. Olga begleitete ihn natürlich. Als sie eines Sonntags zurück zur Kutsche gingen, sagte er zu ihr: »Er hat zwar kein Geld, aber wenn du Pinegin heiraten willst – ich habe nichts dagegen.«
    »Heiraten?« Sie starrte ihn an. »Wie kommst du denn auf die Idee?«
    »Du verbringst doch viel Zeit mit ihm. Sicher denkt er, du seist interessiert.«
    »Hat er das gesagt?«
    »Nein, aber ich bin ganz sicher.«
    »Ich habe nie daran gedacht«, erklärte sie wahrheitsgemäß. Er nickte. »Nun ja, du bist Witwe, und du bist reich. Du kannst machen, was du willst. Aber spiele nicht mit ihm. Er kann ein sehr gefährlicher Mann sein!«
    In der nächsten Woche war sie deshalb vorsichtig. Sie war zwar ebenso freundlich wie früher, doch nun ging sie öfters allein aus, oder sie nahm ihre Mutter oder Alexej mit, wenn Pinegin dabei war. Sie beobachtete ihn die ganze Zeit: War er wirklich gefährlich? Eines Nachmittags in der ersten Juniwoche saß die Familie beim Tee auf der Veranda, als eine kleine Staubwolke sich näherte; sie kam den Weg herauf und machte vor dem Gartentor halt. »Mein Gott, eine Troika«, schrie Ilja.
    Die Troika, ein Pferdegespann, in dem drei Pferde nebeneinander liefen, war höchst schwierig zu lenken. Andererseits war es momentan in Mode, per Troika zu reisen – es galt als chic. Drei Männer saßen darin; der prächtig gekleidete Lenker sprang mit einem Schrei herunter – es war Sergej. Nach russischer Art küßte er jeden dreimal und erklärte munter: »Hallo, Olga! Hallo, Mama! Hallo, Alexej! Man hat mich ins Exil geschickt.« Früher oder später hatte er ja einmal in Schwierigkeiten kommen müssen.
    Zu den ersten Handlungen des Zaren Nikolaus zur Sicherung der politischen Ordnung in seinem Reich gehörte die Errichtung eines neuen, ganz speziellen Polizeiamtes, der »Dritten Abteilung«; an ihre Spitze stellte er einen seiner Freunde, den gefürchteten Grafen Alexander Benckendorff.

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