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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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erstarrte. »Du bist also lieber mit deinem Onkel Sergej zusammen als mit mir«, sagte er bitter.
    Der Junge merkte, daß er etwas falsch gemacht hatte, und errötete verwirrt. »O nein«, sagte er ernsthaft, »du bist mein Papa.« Dann trat er neben Alexej.
    Die beiden gingen miteinander weg, doch Olga sah, daß Alexej den Kleinen nicht an der Hand nahm. Sie dachte daran, daß er bald in den Krieg gegen die Türken ziehen würde, und die beiden taten ihr leid.
    Der erste Donnerschlag des großen Sturmes, der über sie hinwegbrausen sollte, kam für alle, auch für Olga, völlig überraschend, und zwar am folgenden Morgen, als Sergej im Badehaus war. Niemand in Rußland, von der Herrscherfamilie bis zum armseligsten Knecht, konnte sich ein Leben ohne das traditionelle russische Bad vorstellen. Es ähnelte im Prinzip der finnischen Sauna. Im Badehaus befand sich ein Ofen, der ein tiefes Gestell mit großen Steinen beheizte, worauf Wasser gegossen wurde, damit der Raum sich mit Dampf füllte.
    Auch Sergej liebte dieses Bad. Im Sommer sprang er danach in den Fluß, im Winter wälzte er sich im Schnee. Als er an diesem Morgen mit wirrem Haar und keuchend aus dem Wasser stieg, kam der kleine Mischa den Hügel heruntergelaufen und schrie: »Onkel Sergej, sie sperren den Priester aus Russka ein!« Zwei Stunden davor war der große rothaarige Priester von drei Gendarmen in blauen Mänteln der Dritten Abteilung überrascht worden, die sein Haus gründlich durchsuchten. Innerhalb einer Stunde raunte man sich in der Stadt, im Kloster und sogar in Bobrovo die Neuigkeit zu. Was bedeutete das? Olga ahnte es sofort. »Ach, Serjoscha«, flüsterte sie, »was hast du getan?«
    »Nichts Besonderes«, grinste er. Er hatte einen anonymen Brief an die Abteilung geschrieben, in dem es hieß, der Priester betreibe eine illegale Freimaurerpresse und verteile Pamphlete. Auf Olgas Einwand, diese Anschuldigung sei unglaubwürdig, erwiderte Sergej: »Sie ist unglaublich, aber die Gendarmen sehen das anders, nicht wahr?«
    »Ach, Serjoscha!« Olga wußte nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Es war bekannt, daß Benckendorffs Abteilung mit falschen Beschuldigungen aus allen Richtungen überschwemmt wurde. »Möge Gott dir beistehen, wenn Alexej das herausfindet«, sagte sie.
    Mittags, als die Gendarmen, die nichts gefunden hatten, sich auf den Heimweg machten, kam Alexej von seinem Morgenritt zurück und passierte Russka, wo ihm der arg mitgenommene Geistliche seine Geschichte erzählte. Alexej ahnte, genau wie Olga, die Zusammenhänge sofort.
    Als Alexej an jenem Nachmittag Sergej im Kreise der Familie sitzen sah, warf er ihm einen Blick eisiger Verachtung zu. Aber er sagte nur: »Das wirst du noch sehr bereuen, das verspreche ich dir.« Zu Alexejs Überraschung bat Sergejs Diener am frühen Abend um eine Unterredung mit ihm. Für Bobrovs Leibeigene war Sergejs Position immer undurchsichtig gewesen. Als sein Vater starb, gingen die Besitzungen an seine Brüder; es wurde jedoch allgemein angenommen, daß seine Jugend und seine ungebärdige Art der Grund dafür waren, daß er übergangen wurde. Dennoch stand fest: Wenn die Leibeigenen zwischen ihrem Herrn Alexej und Sergej hätten wählen können, hätte es keinen Zweifel gegeben, auf welche Seite sie sich geschlagen hätten. Die wachsende Kluft zwischen den Brüdern war unverzüglich zur Kenntnis genommen worden. Und auch der jüngste Ärger war nicht unbemerkt geblieben. Der junge Knecht hatte die Situation sehr sorgfältig geprüft, ehe er am Abend dem älteren Bruder einen genauen Bericht über eine gewisse Begebenheit in Moskau lieferte. Als er geendet hatte, schien der Gutsbesitzer erfreut.
    »Es war recht von dir, mir das mitzuteilen«, sagte Alexej. »Du wirst mit niemandem sprechen. Und wenn alles gut ausgeht, erlasse ich deiner Familie ein Jahr lang den obrok.« Der Diener war beglückt. Am selben Tag noch setzte Alexej Nachforschungen in Gang. Am nächsten Tag herrschte eine unerträgliche Spannung im Haus. Alexej sah aus, als werde er jeden Augenblick losdonnern. Während des Essens wurde kaum ein Wort gesprochen. Am Abend gab es nur eine leise Unterhaltung, und Olga fürchtete, daß ein unbedachtes Wort einen Streit zwischen den Brüdern entfachen könnte. Insbesondere Sergej machte den Eindruck, als wollte er seinen älteren Bruder provozieren. Wie konnte sie nur Frieden stiften?
    Als sie Karpenko anblickte, kam ihr plötzlich eine Idee. »Warum erzählen Sie uns nicht eine

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