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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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gehen. Unter ihrer Fürsorge wuchs der kleine Michail – sie nannten ihn Mischa – zu einem liebenswerten Abbild seines Vaters heran. Arina fand ein Kind seines Alters von einem Leibeigenen aus dem Dorf, Ivan Romanovs jüngsten Sohn Timofej; bald spielten die beiden Jungen jeden Tag fröhlich miteinander.
    Im Frühjahr kamen dann gute Nachrichten. Olga wollte mit ihren beiden Kleinen für die Sommermonate kommen. Eine Woche darauf traf ein Brief von Alexej ein. Ein neuer Feldzug gegen die Türken wurde für den Herbst erwartet, doch im Sommer hatte er drei Monate Urlaub bekommen. »Die möchte ich mit dir und meinem Sohn verbringen«, hieß es in dem Brief.
    So würde von all ihren Kindern nur Sergej fehlen. Und Tatjana mußte zugeben, daß das ganz gut so war.
    Olga war froh, wieder in dem bescheidenen grünweißen Haus zu sein und vom Hügel aus hinunter zum Flußufer zu schauen, wo die süß duftenden Kiefern wuchsen. Es war eine Rückkehr in die Kindheit und in die Familie. Es tat gut, die beiden kleinen Mädchen in der Obhut der beiden Arinas zu wissen. Ihre alte Kinderfrau hatte nur noch drei Zähne, aber ihre Nichte, die junge Arina, wie sie genannt wurde, war ein hübsches, heiteres Mädchen von sechzehn Jahren, das alles sehr rasch von der älteren Frau lernte. Olga verbrachte schöne Stunden mit ihnen draußen auf der Veranda; auch der kleine Mischa war dabei, und sie hörten den wunderbaren Geschichten der alten Arina zu.
    Olgas Schmerz über den Tod ihres Mannes, so schrecklich er auch gewesen war, verflüchtigte sich allmählich, und in dem ruhevollen russischen Sommer fühlte sie sich gesunden. Tatsächlich herrschte jetzt eine freundliche, herzliche Atmosphäre im Haus. Alexej war durch den Verlust seiner Frau sanfter geworden. Obwohl er es nicht sagte, fühlte Olga, wie kostbar ihm jeder Tag war, den er mit seinem kleinen Sohn verbrachte.
    Allerdings wurde nicht viel gelacht. Oft dachte Olga an Sergej und seine ansteckende Fröhlichkeit. Sie hatte seit mehreren Wochen keinen Brief von ihm erhalten. Das war ungewöhnlich. Trotzdem war sie froh, daß er nicht auch zu Besuch kam. Denn achtzehn Monate zuvor hatte es bei der Beerdigung des Vaters eine dramatische Auseinandersetzung zwischen Sergej und Alexej gegeben. Der fehlgeschlagene Coup der Dekabristen, der den Zündstoff lieferte, lag damals erst zwei Monate zurück. Als die trauernde Familie sich im Salon versammelt hatte, behauptete Alexej allen Ernstes, er danke Gott, daß die Verschwörer so rasch zur Strecke gebracht werden konnten. Darauf erwiderte Sergej munter: »Ich kannte ein paar von diesen Burschen. Hätte ich nur gewußt, was sie vorhaben, ich hätte sofort mitgemacht.« Alexej erbleichte vor Zorn und sagte mit bebender Stimme: »Ich weiß eigentlich nicht, warum du überhaupt hier bist, Sergej. Und es tut mir leid, daß du hier bist.« Von da an wechselten die beiden kein Wort mehr miteinander.
    Vielleicht weil jetzt alles so friedlich war, erkannte Olga die Gefahr nicht. Alexej hatte seinen Freund Fjodor Petrovitsch Pinegin für die Urlaubszeit eingeladen. Pinegin war ein ruhiger Mensch, wohl noch nicht dreißig, mit einem schmalen, harten Gesicht, rotblondem Haar und blaßblauen, ausdruckslosen Augen. »Er ist ein guter Kerl, ein bißchen einsam«, hatte Alexej erklärt. »Er war lange in der Armee, aber darüber mag er nicht sprechen.« Während die anderen sich unterhielten, saß Pinegin gewöhnlich still da und zog an seiner kurzen Pfeife. Er hatte eine auffallende Angewohnheit: Er trug ständig einen weißen Uniformrock und Uniformhosen. Nach seiner Lieblingsbeschäftigung befragt, antwortete er sanft: »Jagen.« Da Alexej mit dem Gut beschäftigt war und Ilja sich selten von seinen Büchern entfernte, fand Olga sich auf ihren Spaziergängen häufig in Pinegins Gesellschaft; dabei erwies er sich überraschenderweise als unterhaltsamer Begleiter.
    Olga wußte, daß sie schön war. Sie war jetzt vierundzwanzig, hatte eine hochgewachsene, elegante Figur, große, strahlend blaue Augen, langes braunes Haar und bewegte sich mit stolzer Anmut. Sie ahnte, daß Pinegin sie mochte, doch darüber machte sie sich kaum Gedanken.
    Es gab wunderschöne Ausflugsziele. Nicht weit vom Haus führte eine lange schattige Allee in ein Silberbirkenwäldchen. Man konnte auch am Fluß entlangschlendern, wo die Kiefern duftenden Schatten spendeten. Olgas bevorzugter Gang war jedoch zum Kloster. Sie liebte es.
    Zweimal ging Olga mit Pinegin zum Kloster

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