Russka
Bruder«, meinte Sergej lachend, »wenn du so sprichst, denken die Leute, du seist verrückt.«
Ilja war keineswegs verlegen. »Ich werde beweisen, daß der Schlüssel zu unserer geistigen Rettung nicht in der Religion, nicht in der Politik, nicht einmal in der Rechtsprechung, sondern in der Wirtschaft liegt. Und hier«, er lächelte selbstzufrieden, »habe ich meine Bibel und meinen Propheten; ich spreche natürlich von dem großen Schotten Adam Smith und seinem Werk. Eine Untersuchung über Natur und Ursachen des Volkswohlstandes!«
Tatsächlich waren die Schriften von Adam Smith, dem Vater der kapitalistischen Nationalökonomie und des freien Marktes, den russischen Intellektuellen jener Zeit wohlbekannt. »Daraus entwickelt sich alles«, erklärte Ilja, »sogar die Befreiung der Leibeigenen.«
Alexej wurde plötzlich hellhörig. »Befreiung der Leibeigenen – warum?«
»Weil mehrere russische Ökonomen während der letzten beiden Jahrzehnte schlüssig aufgezeigt haben, daß du selbst besser daran bist, wenn du deinen Leibeigenen die Freiheit gibst«, setzte Ilja ihm auseinander. »Überlege doch: Ein freier Bauer bekommt einen Anreiz, wenn er für das, was er produziert, bezahlt wird. Dein Knecht, der ohne Belohnung zur Arbeit gezwungen wird, tut sowenig wie nur möglich.«
»Du glaubst also tatsächlich, daß der Bauer versuchen wird, so reich wie möglich zu werden, und sich dabei nur auf seine eigene harte Arbeit verläßt?« fragte Alexej. »Ja, sehr wahrscheinlich.«
»Und wenn sein schwächerer Nachbar zurückfällt, darf der denn leiden?«
»Ja, aber man kann ihn unterstützen.«
»Und wie steht es mit einer Familie wie der unseren? Unsere Rolle in der Geschichte war es seit jeher, dem Zaren und unserem Land zu dienen. Soll ich mich vielleicht zu Hause um den Profit kümmern wie ein Kaufmann?«
»Wir alle wollen einer Sache dienen, Alexej«, erklärte Ilja, »aber ich spreche von Geld und Marktlage.«
»Nein«, erwiderte der andere, »du sprichst von Menschen und ihrer Handlungsweise. Wenn alle Menschen nur für sich selbst handeln, wie du es vorschlägst – wo bleiben da die Religion, die Disziplin, der Gehorsam, die Demut? Ich sehe nur Chaos und Habgier. Tut mir leid, Ilja, wenn das deine Vorstellung von Fortschritt ist – meine ist es jedenfalls nicht. Es ist der unheilvolle, selbstherrliche Weg des Westens. Dagegen hat Rußland jahrhundertelang gekämpft. Ich und unsere Kirche, und ich nehme sogar an, unsere Leibeigenen werden dagegen sein, solange wir einen Funken Leben in uns haben.« Er erhob sich verärgert, wünschte eine gute Nacht und zog sich zurück.
Sergej und Ilja blieben noch lange sitzen. Sie sprachen über Iljas Reise, die er für den kommenden Herbst geplant hatte, über Literatur, Philosophie und viele andere Themen. Spätnachts meinte Sergej schließlich: »Weißt du, lieber Bruder, Alexej hat gar nicht so unrecht, was deine Ideen anbelangt. Du greifst unser armes altes Rußland an, aber du täuschst dich in diesem Land.«
»Wieso?«
Sergej seufzte. »In erster Linie möchtest du, daß Rußland bessere Leistungen erbringt. Ehrlich gesagt, das ist unmöglich. Rußland ist zu groß, das Klima ist zu schlecht. Wir sind das Ödland, das die Römer niemals eroberten. Im Westen sind die Städte durch Straßen verbunden. Und was haben wir? Eine Schotterstraße im ganzen Reich, von Moskau nach St. Petersburg, von Peter dem Großen geplant, doch erst 1830, mehr als hundert Jahre nach seinem Tod, ausgeführt. Europa hat Eisenbahnen. Was haben wir? Man begann mit dem Bau einer Eisenbahn letztes Jahr, und zwar von der russischen zur österreichischen Hauptstadt, doch der Zar selbst erklärte, er halte es für gefährlich, wenn Menschen sich derart rasch fortbewegten. Rußland ist nicht der geschäftige Westen und wird es niemals sein. Rußland wird weiterhin langsam und leistungsschwach sein. Und soll ich dir etwas verraten? Es macht nichts aus. Damit komme ich zum zweiten Einwand. Deine Vorschläge für Rußland entstammen deinem Gehirn. Sie sind logisch, vernünftig, klar umrissen. Deshalb haben sie mit der Sache an sich nichts zu tun. Die Russen werden sich auf diese Weise nie motivieren lassen, und das kann der Westen nicht verstehen. Du mußt Rußlands Herz anrühren. Das Herz, die Seele, Ilja, nicht das Hirn. Inspiration, Verständnis, Sehnsucht, Energie – all das kommt aus dem Herzen.
Unser Begriff von Heiligkeit, von wahrer Gerechtigkeit, von Gemeinschaft – das alles
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