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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Feigling bezeichnen.«
    Pinegin verbeugte sich. »Für diese Schmähung, Michail Alexejevitsch, werde ich gegen Sie antreten. Sind Sie damit einverstanden, daß ich die Zeit des Duells bestimme?«
    »Wie Sie wünschen. Je eher, desto besser.«
    »Ich teile Ihnen mit, wann ich bereit bin. Vielleicht nächstes Jahr.« Und damit ging Pinegin und ließ Mischa in völliger Verwirrung zurück.
    Wenig später stieg Ilja Bobrov langsam die Treppe herunter, stülpte sich einen großen, breitkrempigen Hut auf, nahm einen kräftigen Spazierstock und verließ das Haus, ohne jemanden davon zu unterrichten. Kurz darauf sahen die Leute im Dorf ihn dahinkeuchen, auf seinem von der Anstrengung geröteten Gesicht den Ausdruck wilder Entschlossenheit. Niemand hatte Ilja bisher in einer derartigen Verfassung gesehen. Nachdem er den Ort durchquert hatte, nahm er den Weg durch die Wälder zum Kloster. Nach Monaten intensiver Arbeit an seinem Projekt steckte Ilja nun in einer absoluten Krise und war einem Zusammenbruch nahe. Die letzte Nacht hatte er kein Auge zugetan, und wäre ihm jemand auf seinem Gang durch die Wälder begegnet, hätte er den Eindruck eines verzweifelten Pilgers auf der Suche nach dem Gral gehabt.
    Am Mittag – Tatjana war mit Pinegin nach Russka hinübergefahren – wurde Mischa, der allein in dem stillen Haus seinen Gedanken nachhing, durch Gepolter an der Tür und durch fröhliche Stimmen aufgeschreckt. Sergej war aus der Ukraine zurückgekommen, und er hatte seinen Freund Karpenko mitgebracht. Sergej stürmte in die Diele, braungebrannt, erholt, sprühend voll Lebenslust und guter Laune. Er umarmte Mischa. »Sieh dir das an«, rief er Karpenko zu. »Schau nur, was aus unserem kleinen Bären geworden ist!«
    Auch Karpenko war völlig verändert. Das war nicht mehr der nervöse Junge von einst, der Olga angehimmelt hatte, sondern ein charmanter, selbstbewußter Mann Ende Dreißig mit glänzendem schwarzen Bart und sensiblen Augen. Es hieß, er habe großen Erfolg bei Frauen. Und Karpenko war zufrieden mit seinem Leben: Die meisten seiner Hoffnungen hatten sich erfüllt. Er hatte mit drei Bühnenstücken Furore gemacht, die Zeitschrift, die er in Kiev herausbrachte, verkaufte sich blendend. Er hatte auch miterlebt, wie seine geliebte Ukraine literarische Ehren einheimste. Sein ukrainischer Mitbürger, der Satiriker Nikolaj Gogol, hatte sich bereits einen Namen in Rußland gemacht. Und das Wichtigste war: Sein Land hatte endlich einen wahrhaft großen Schriftsteller hervorgebracht, den Dichter Taras Schevtschenko, der herrliche Poesie in ukrainischer Sprache schrieb.
    »Wir fahren morgen nach Moskau«, verkündete Sergej fröhlich, »dann nach St. Petersburg. Karpenko und ich haben eine Menge Ideen. Wir werden die Hauptstadt im Sturm nehmen!« Er blickte umher. »Wo, zum Teufel, ist Ilja? Wir wollen ihn unbedingt sehen.« Die Diener wurden ausgeschickt, ihn zu suchen. Sergej ging nach oben, um seine Frau zu begrüßen, kehrte aber schnell wieder zurück und schien ziemlich verwundert. »Das ist doch merkwürdig«, meinte er zu Mischa. »Ich hatte gedacht, sie haßt das Landleben; nun möchte sie noch ein bis zwei Wochen hierbleiben, während wir nach Moskau fahren.« Er starrte in das bekümmerte Gesicht seines Neffen: »Was ist denn nur mit dir los, Mischa?«
    Da hielt Mischa es für angebracht, seinen Onkel über die Wahrheit aufzuklären.
    Die Vorkehrungen wurden an jenem Nachmittag diskret getroffen. Als Austragungsort wurde eine kleine Lichtung bei dem Grabhügel neben dem zum Kloster führenden Weg gewählt. In der Morgendämmerung würde dort sicher niemand vorüberkommen. Da Pinegin keinen Sekundanten hatte, hatte Karpenko auf Sergejs Wunsch hin widerstrebend diesen Part übernommen. Das frühe Abendessen verlief ruhig, wobei Sergej, Pinegin und Karpenko höfliche Konversation führten. Weder Tatjana noch Nadja ahnten auch nur das geringste von dem Bevorstehenden. Alle rätselten statt dessen über das Verschwinden Iljas, der noch immer nicht zurückgekehrt war. Er war jedoch auf dem Weg nach Russka gesehen worden, und so beruhigten sich alle. Nach dem Essen übernahm Karpenko es, die Damen zu unterhalten, während Sergej sich in sein Zimmer zurückzog, um für den Fall der Fälle die letzten Dinge zu regeln.
    Er hatte einige Briefe zu schreiben: einen an Olga, einen an seine Mutter und einen dritten an seine Frau; dieser enthielt keinerlei Vorwürfe; der Brief, der ihm am schwersten fiel, war an Alexej

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