Russka
raffte bei weitem mehr Menschen hinweg als die tatsächlichen Kampfhandlungen. Dieser Krieg war, ob gewonnen oder verloren, vor allem eine Demütigung für Rußland. Waffen und technische Kriegführung der russischen Armee waren hoffnungslos veraltet. Mit den hölzernen Schiffen konnten zwar die Türken besiegt werden, doch den Franzosen oder Briten gegenüber waren sie eine reine Farce. Das Prestige des Zaren im Ausland nahm ab.
Der Krieg hatte 1854 begonnen. Am Ende dieses Jahres war sich jeder, bis hinunter zum einfachsten Bauern, der Dienst tat, der verheerenden Tatsache bewußt, daß mit dem Zarenreich, mit dem Heiligen Rußland, etwas nicht stimmte.
Wenn ich hier herauskomme, hatte Mischa beschlossen, werde ich meinen Dienst quittieren und in Russka leben. Sein Vater und Ilja waren tot. Jemand mußte sich um den Besitz kümmern. Und außerdem hatte er einfach genug.
Kaum war er eine Woche in Sevastopol, war er dort auf Pinegin gestoßen. Er hatte den Mann fast vergessen, und da stand er nun plötzlich, kaum verändert; immer noch im Rang eines Hauptmanns, das wettergebräunte Gesicht ruhig wie eh und je, die unvermeidliche Pfeife im Mund.
»Ach, Michail Alexejevitsch«, sagte er, als sei ihre Begegnung das Natürlichste von der Welt. »Wir haben etwas zu klären, glaube ich.« Ist es möglich, daß Pinegin dies nach all den Jahren ernst meint, überlegte Mischa. Anfangs hatte er die Sache eher als einen makabren Scherz betrachtet. Im Laufe der Monate allerdings wurde ihm bewußt, daß es für Pinegin mit seinem strengen Ehrenkodex keinen anderen Weg gab. Mischa hatte ihn einen Feigling genannt, deshalb stand das Duell zwischen ihnen an. Daß seit der Kränkung Jahre vergangen waren, spielte keine Rolle. Es war gegen alle militärischen Regeln, solche Angelegenheiten während eines Krieges zu regeln. »Wenn das hier vorüber ist und wir beide noch am Leben sind, werden wir die Sache bereinigen«, meinte Pinegin leichthin. Er wird mich auf alle Fälle töten, dachte Mischa.
Während dieser furchtbaren Belagerungszeit begegneten sie einander ziemlich häufig, und das auf fast freundlicher Basis. Einmal holten sie nach einem schweren Bombardement, in dem Hunderte von Mitsoldaten verwundet worden waren, gemeinsam Leute aus einem brennenden Gebäude. Manchmal sah Mischa, wie Pinegin zwischen Kranken umherging, offenbar nicht auf die Ansteckungsgefahr achtend. Er war, das mußte Mischa zugeben, ein Mann ohne Furcht.
Die Monate vergingen. Anfang jenes Jahres starb Zar Nikolaus I. und sein Sohn Alexander II. bestieg den Thron. Es gab Gerüchte, daß der Krieg zum Ende komme, doch die Verhandlungen platzten, und die Belagerung nahm ihren Fortgang. Am Morgen des 11. September endlich ging der Befehl zum Rückzug wie ein Lauffeuer durch den Hafen. Alles rüstete sich zum Abmarsch, Packtiere wurden fertiggemacht, Verwundete auf Wagen geladen. Überall herrschte Verwirrung. Am Vormittag gingen Spezialeinheiten an die Arbeit. Von diesen gab es mehrere. Sie hatten sämtliche noch verbliebenen Verteidigungsanlagen Sevastopols zu zerstören. »Wenn der Feind die Stadt besetzt, findet er nur noch Ruinen«, war der Kommentar des Kommandeurs. »Ich habe sofort einige Offiziere und Mannschaften abzustellen. Sie haben sich umgehend bei der neunten Kompanie zu melden.«
So kam es, daß Mischa dem Kommando des Hauptmanns Pinegin zugeteilt wurde. Es war ein gefährliches Unternehmen, sich dem ersten Angriffsziel zu nähern. Als sie einen kleinen Platz überquerten, zischte eine Granate über ihre Köpfe weg und detonierte in einem Haus etwa dreißig Meter hinter ihnen. Endlich gelangten sie an einen Mauerabschnitt, hinter dem eine Feuerstellung eingerichtet war. Um diese zu erreichen, mußten die Männer eine ungedeckte Strecke hinter sich bringen, die von einer Gruppe französischer Heckenschützen, verschanzt in Häuserruinen, eingesehen werden konnte. Zweimal riß Pinegin Mischa zu Boden, als die Kugel eines Heckenschützen über sie hinwegsauste. Die Männer stellten Pulverfässer auf. Mischa und Pinegin legten die Zündschnur an der Wand entlang. Die Männer mit den übrigen Sprengkörpern hatte Pinegin weggeschickt.
Während sie an der Arbeit waren, war es plötzlich vollkommen ruhig geworden. Mit Sicherheit lagen die Heckenschützen auf der Lauer und warteten nur darauf, daß die beiden auftauchten. Der Beschuß hatte ausgesetzt.
Mischa Bobrov wurde sich plötzlich bewußt, daß er in diesem Augenblick die Gelegenheit zu
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