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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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gerichtet.
    Als die Sonne bereits hinter dem hohen Wachturm in Russka versunken war, kam Ilja zurück. Er schleppte sich nur langsam vorwärts, weil er so müde war. Aber das war ihm nicht bewußt. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ sich nur als religiöse Ekstase deuten. Ilja hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Zusammen mit Sergej machte er an diesem Abend eine wundervolle Entdeckung.
    Es war eine seltsame Szene: der eine Bruder angespannt und mit jeder Faser dem nächsten Morgen entgegenfiebernd; der andere, ohne im geringsten zu ahnen, was sich abspielte, mit seinem von Erregung geröteten Gesicht.
    Ilja hatte den ganzen Sommer an der Planung seines großen Werkes gesessen und all seine Gedanken darauf verwendet. Schließlich hatte er einen Entwurf für ein neues, modernes Rußland mit westlichen Gesetzen und Institutionen und einem starken Wirtschaftssystem erstellt. Das Projekt war intelligent, praktisch, logisch. Ilja sah es gleichsam vor sich, wie Rußland frei und erfolgreich wie jede andere Nation werden könnte. Doch dann begann Iljas Krise. Sergej lauschte den erregten Ausführungen seines Bruders. Er verstand Iljas Problem sofort – im wesentlichen war es die Tragödie ihres Landes.
    »Das war mein verzweifeltes Problem, Serjoscha: Je plausibler mein Plan aussah, desto klarer wurde mir, daß er nicht realisierbar war. Wenn man den Glauben an sein eigenes Land verliert, an das Land, das man liebt… zu begreifen, daß ein sinnvoller Plan zum Scheitern verurteilt ist, eben weil er sinnvoll ist… das ist einfach furchtbar.« Sergej hatte so manchen klugen Mann gekannt, der unter genau den gleichen Qualen gelitten hatte. Wie viele vor ihm und zweifellos viele nach ihm wurde Ilja, der gebildete »Westler«, vom eigenen instinktiven Verständnis seiner russischen Heimat gelähmt. Und doch hatte er den ganzen Sommer über nicht aufgegeben. »Das sollte mein Lebenswerk werden, Serjoscha. Ich konnte es nicht plötzlich zum flüchtigen Unterfangen deklarieren.« Woche für Woche hatte er weitergearbeitet, bis schließlich nach einer schlaflosen Nacht an jenem Morgen die Krise ihren Höhepunkt erreicht hatte: Ilja konnte nicht mehr.
    Er hatte den Weg zum Kloster eingeschlagen, ohne genau zu wissen, warum: vielleicht eine Kindheitserinnerung, vielleicht eine unbewußte hilflose Hinwendung zum Glauben. Er wanderte stundenlang in der Gegend des Klosters herum, ohne daß er eine Erleuchtung empfangen hätte. Da kam ihm plötzlich die Idee, zu der kleinen Rublev-Ikone zu gehen, die seine Familie dem Kloster vor vielen Jahrhunderten gestiftet hatte. Zuerst empfand er nichts, doch dann hatte Ilja den Eindruck, daß die Ikone ihre Wirkung auf ihn ausübe. Zwei Stunden lang stand er davor. »Und dann wußte ich endlich, Serjoscha.« Ilja griff aufgeregt nach Sergejs Arm. »Ich wußte, was an meiner Konstruktion falsch war. Genau das hattest du mir schon gesagt: Ich versuchte Rußlands Probleme mit meinem Hirn, mit Logik zu lösen. Ich hätte es mit dem Herzen tun sollen. Jetzt bin ich bekehrt und ein Slavophile!«
    »Und was wird mit deinem Buch?«
    Ilja lächelte. »Ich brauche jetzt nicht mehr ins Ausland zu reisen. Die Antwort auf Rußlands Probleme liegt hier im Land selbst. Ich denke, die Kirche ist der Schlüssel«, führte er aus. »Ohne die führende Kraft der Religion bleibt das russische Volk teilnahmslos. Wir können zwar westliche Gesetze, unabhängige Richter, vielleicht sogar ein Parlament haben, doch nur, wenn sie allmählich aus der geistigen Erneuerung heraus sich entwickeln. Die muß zuerst kommen.«
    »Und Adam Smith?«
    »Die Gesetze der Ökonomie gelten immer noch, aber wir müssen unsere Landwirtschaft und unsere Betriebe für die Gemeinschaft, nicht für das Individuum organisieren. Rußland kann dem Westen niemals gleich sein.«
    Sergej lächelte. Er wußte nicht, ob sein Bruder recht oder unrecht hatte, doch er war froh, daß Iljas Seelenqualen endlich beendet zu sein schienen. »Es ist sehr spät, ich möchte mich gern ausruhen«, bat er. Bis zur Morgendämmerung blieben ihm noch einige Stunden, die er allein verbringen wollte.
    Die kleine Lichtung lag in völliger Ruhe. Die ersten Sonnenstrahlen fingen sich im Tau. In einiger Entfernung war das Kloster zu sehen, dessen Glocke soeben ihr Läuten beendet hatte. Die beiden Männer legten ihre Jacken ab. Die kühle Morgenluft ließ Sergej leicht erschauern. Karpenko und Mischa, beide sehr bleich, luden die Pistolen und reichten sie den

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