Russka
einem Mord hatte. Sie waren völlig allein, die anderen Soldaten außer Sichtweite. Pinegin war nicht bewaffnet. Er kniete mit dem Rücken zu Mischa, nestelte an der Zündschnur herum und kroch dann im Schutz der Mauer weiter. Er hätte nur einen Augenblick über der Brustwehr auftauchen müssen, lange genug, um einen Heckenschützen zu einem Schuß zu bewegen. Ein einziger Schuß würde genügen – die Soldaten würden ihn hören. Und dann… Mischas Hand lag an seiner Pistole. Er brauchte nur auf den Hinterkopf zu zielen. Er würde Pinegin liegenlassen, die Stellung in die Luft jagen und den Leuten erzählen, ein Heckenschütze habe den Hauptmann erwischt. War er, Mischa Bobrov, tatsächlich fähig, einen Mord zu begehen? Vielleicht waren es die Monate in diesem Höllenloch, die ihm das menschliche Leben weniger wert erscheinen ließen. Oder war es vielmehr der bloße Selbsterhaltungstrieb? Pinegin würde ihn kaltblütig töten. Er, Mischa, hatte jetzt die Chance, das gleiche zu tun. Und sein Schuß würde zuerst treffen.
Immer noch zögerte Mischa. Was hielt ihn denn davon ab? Moral? Welche Moral gab es letztlich in einem Duell? Es steht doch fest, daß ein Mord begangen wird! Nein, entschied Mischa, nichts hielt ihn davon ab, Pinegin zu töten. Höchstens ein gewisser Ehrenkodex, der, bei Licht betrachtet, blödsinnig war. Mischas Hand ruhte auf seiner Pistole. Er hatte sich immer noch nicht von der Stelle gerührt.
Plötzlich wandte Pinegin sich um und sah ihn durchdringend an. Mischa fühlte, daß die blaßblauen Augen erkannten, was in ihm vorging. Doch da lächelte Pinegin, drehte ihm wieder den Rücken zu und fummelte weiter an der Zündschnur. Minuten später entzündeten sie die Schnur und beobachteten, wie der Funke von ihnen weg auf sein Ziel zulief. Kurz bevor er die Fässer erreicht hatte, duckten sich die beiden Männer und hielten den Atem an. Doch es geschah nichts. »Verdammtes Material«, murmelte Pinegin. »Gott weiß, was da schiefgegangen ist. Warte hier«, befahl er. Er rannte los, mit gesenktem Kopf an der Mauer entlang. Er hatte die Fässer fast erreicht, als die Kugel eines Heckenschützen vorüberzischte. Dann flogen die Fässer in die Luft.
1857
Der Krimkrieg war unter demütigenden Bedingungen für Rußland zu Ende gegangen. Es hatte sein Recht auf eine Flotte im Schwarzen Meer eingebüßt. Niemand verspürte mehr Lust auf weitere Feindseligkeiten. Der neue Zar, Alexander II. kündigte zahlreiche Reformen an. Und alle waren auch überzeugt, daß es Veränderungen geben mußte. Von allen Neuerungen, die im Gespräch waren, lag Mischa die mögliche Abschaffung der Leibeigenschaft am meisten am Herzen.
Schon seit dem Vorjahr wurde ganz Rußland von Gerüchten über dieses wichtige Thema überschwemmt. Vom europäischen Ausland aus forderte der radikale Schriftsteller Alexander Herzen den Zaren auf, seine Untertanen freizustellen.
Mitten in all der Erregung blieb Mischa Bobrov, obwohl er persönlich die Befreiung für wünschenswert hielt, zurückhaltend. »Das Volk mißversteht den neuen Zaren«, sagte er zu seiner Frau. »Sie halten ihn für einen Reformer, und vielleicht ist er das in mancher Hinsicht auch. Aber im Grunde ist er ein sehr konservativer Mann, genau wie sein Vater, und ein Pragmatiker. Sein höchstes Ziel wird es sein, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn dazu die Abschaffung der Leibeigenschaft nötig ist, wird er sie durchsetzen. Wenn nicht, dann bleibt alles beim alten.«
Viele Landbesitzer waren, anders als Mischa, höchst beunruhigt. »Ich verrate Ihnen einen guten Trick«, sagte ein Gutsherr aus der Nachbarschaft. »Manche von uns rechnen damit, daß wir im Fall des Falles den Leibeigenen das Land überlassen müssen, das sie bebauen. Nehmen Sie also die Leute von der Landarbeit weg, und bringen Sie sie vorläufig als Hausangestellte bei sich unter. Wenn es zu der befürchteten Entscheidung kommen sollte, können Sie immerhin sagen, daß die Leute nicht auf den Feldern gearbeitet haben. Dann brauchen Sie ihnen vielleicht gar nichts zu geben.«
Was auch an Reformen kommen mochte – Mischa freute sich, daß er wieder zu Hause war. Er hatte nicht nur Bobrovo, sondern auch Iljas Besitz in Rjazan geerbt. »Ich will mich der Landwirtschaft und verschiedenen Studien widmen«, erklärte er. Nach Iljas Tod fünf Jahre zuvor hatte er das umfangreiche unvollendete Manuskript des großen Werkes seines Onkels entdeckt. Vielleicht würde er es abschließen.
Ja, es gab
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