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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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erwachsener aus. Er war schlank, etwas größer als Nikolaj, blickte ziemlich düster drein und hatte einen rötlichbraunen Haarschopf. Sein Gesicht war glatt rasiert. Die Zähne hinter den schmalen Lippen waren klein, gelblich und unregelmäßig. Die Partie um die auffallend grünen Augen schien leicht aufgedunsen. In Vladimir stiegen die beiden aus, und Nikolaj suchte nach einer Fahrgelegenheit. Schließlich kam er mit einem mürrischen Bauern und einem klapprigen, altersschwachen Karren zurück. »Tut mir leid«, meinte er vergnügt, »aber es ist das Beste, was ich finden konnte.« Wenig später waren sie auf dem Weg.
    Nikolaj Bobrov besah sich die Gegend. Nichts außer Schlamm und Morast, so weit das Auge reichte. Die Wagenräder blieben oft darin stecken und sanken immer wieder tief ein. Nicht der Schnee hatte Napoleons Kraft auf seinem Rückzug von Moskau gebrochen, sondern der Morast, erinnerte sich Nikolaj.
    Obwohl sie nur langsam vorwärts kamen, war der junge Nikolaj freudig erregt. Es war ihm, als sei sein ganzes bisheriges Leben, aber zumindest die letzten beiden Jahre, nur eine Vorbereitung auf diese Reise und diesen Frühling gewesen. Und wie er sich vorbereitet hatte! Wie alle anderen Studenten in ihrem gemeinsamen Haus hatte er gelesen, zugehört, debattiert, wochen- und monatelang. Er hatte sich sogar wie ein Mönch kasteit. Vier Wochen lang hatte er auf einem blanken Brett geschlafen, und gewöhnlich trug er ein härenes Hemd. »Ich bin noch nicht so stark und diszipliniert, wie ich es sein sollte«, gestand er seinen Freunden. Nun endlich kam die Stunde, in der, so hoffte er, er selbst und die ganze Welt neu geboren würden.
    Welch ein Glück, dachte Nikolaj und warf seinem Begleiter einen Blick zu, daß ich meine Mission vor allem mit ihm durchführen werde. Er weiß so viel mehr als ich. Der Gedanke an seine ahnungslosen Eltern beeinträchtigte Nikolajs Freude. Was würde aus ihnen werden? Natürlich würden sie leiden, das war unvermeidlich, aber er würde sie vor dem Schlimmsten bewahren können, tröstete er sich. Langsam ratterte der Wagen auf Russka zu.
    Timofej Romanov stand an einem kalten Frühlingsmorgen am Fenster der isba und starrte seinen Sohn Boris ungläubig an. »Das verbiete ich dir«, schrie er.
    »Ich bin zwanzig und bin verheiratet. Du kannst mich nicht davon abhalten.« Boris Romanov blickte in die Runde. Die Gesichter seiner Eltern waren aschfahl, seine Großmutter Arina saß wie versteinert; nur seine fünfzehnjährige Schwester Natalia schien, wie gewöhnlich, auf seiner Seite. »Denke doch wenigstens an deine arme Mutter«, verlegte Timofej sich aufs Bitten. Die Familie Romanov war klein. Im Laufe der Jahre hatten Timofej und Varja vier Kinder durch Krankheit und Unterernährung verloren, doch mit solchen Tragödien hatte man zu rechnen. Gott sei Dank waren wenigstens Natalia und Boris gesund. Arina ebenfalls, obwohl sie sich nie ganz von der schrecklichen Hungersnot von 1839 erholt hatte; sie war klein, schrumpelig, mitunter verbittert, aber nichts konnte sie umwerfen. Alle, auch Boris und seine junge Frau, wohnten zusammen in einer soliden zweistöckigen isba mitten im Ort. Timofej war jetzt zweiundfünfzig und hatte sich darauf gefreut, es in Zukunft etwas leichter zu haben.
    Diese Hoffnung hatte er bis vor einem Monat gehegt, als Varja ihm sagte, daß sie wieder schwanger sei. »Ich konnte es zuerst nicht glauben«, meinte sie, »doch jetzt bin ich sicher.« Als Antwort auf ihren unsicheren Blick lächelte er tapfer und erklärte, es sei ein Gottesgeschenk. Heute dachte er eher, es sei ein Fluch, denn Boris hatte ihm soeben einen Plan mitgeteilt, der die Familie ruinieren mußte.
    Die Befreiung der Leibeigenen hatte das Leben der Romanovs verändert, aber materiell nicht zum Besseren. Während die Bauern, die staatliches Land bewirtschafteten, einen angemessenen Teil erhielten, galt für die Leibeigenen der privaten Grundbesitzer eine andere Regelung. Zunächst wurde nur etwa ein Drittel des Landes tatsächlich an die privaten Leibeigenen verteilt, während die Landbesitzer den Rest behielten. Außerdem mußten die Leibeigenen für dieses Land bezahlen: ein Fünftel in Geld oder in Fronarbeit, die übrigen vier Fünftel durch eine Anleihe in Form von Staatspapieren, rückzahlbar innerhalb von neunundvierzig Jahren. Das bedeutete, daß die russischen Leibeigenen auf ihren Besitz eine Hypothek aufnehmen mußten. Schlimmer noch – die Landbesitzer brachten es zuwege,

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