Russka
vieles zu bedenken, und trotzdem interessierte ihn am meisten die Sache mit Suvorin und dem Priester. »Wenn ich Suvorin einmal nicht mehr unter Kontrolle habe, weil er frei ist, dann bringt er sicher seine Altgläubigen hierher, und sie fangen an, die Leute zu bekehren. Ich habe dem Priester fest versprochen, daß ich das nicht zulassen werde.«
Beim Militär hatte Mischa nicht mehr daran gedacht. Erkundigungen, die er nach seiner Rückkehr einzog, machten klar, daß sich eine Wandlung vollzogen hatte.
Das Unternehmen der freien Suvorins wuchs rasch. Die aus England importierte Feinspinnmaschine für die Baumwollfabrik war ein großer Erfolg geworden. Sawa Suvorin beschäftigte inzwischen die halbe Einwohnerschaft Russkas. Sein Sohn Ivan leitete das Geschäft in Moskau. Wenn Mischa auch nicht wußte, ob alle Angestellten Suvorins Altgläubige waren, so bildeten sie doch zumindest den harten Kern der Belegschaft. Die Tatsache, daß eine kürzlich erfolgte neue Gesetzgebung einige Gruppen der Altgläubigen, darunter auch die radikalen Theodosianer, aufgebrochen hatte, verhinderte offenbar nicht, daß gewisse religiöse Feiern weiterhin praktisch in aller Offenheit zelebriert wurden. Und doch kam keinerlei Protest seitens des Priesters in Russka. Das war es, was Mischa in höchstem Maß verwunderte.
Als er den Priester das erstemal daraufhin ansprach, leugnete der. »Die Gemeinde in Russka ist loyal, Michail Alexejevitsch. Sie sollten sich keine Gedanken darüber machen.«
Da stellte Mischa Sawa Suvorin selbst zur Rede. Der hatte nur ein Achselzucken übrig: »Altgläubige in Russka? Darüber weiß ich nichts.«
An einem Sonntagmorgen im Dezember fand Mischa plötzlich die Antwort. Er stand auf dem verschneiten Marktplatz in Russka. Der Gottesdienst war gerade vorüber und war schlecht besucht gewesen. Um diese Zeit kam gewöhnlich der Schlitten mit Zeitungen aus Vladimir, und Mischa blieb noch, in der Hoffnung, die letzten Neuigkeiten zu erfahren.
Da sah er den rothaarigen Priester aus der Kirche kommen und mit großen Schritten seinem Haus zustreben. In seiner Begleitung war ein griesgrämig dreinschauender Bursche, ebenfalls rothaarig, in dem Mischa den Sohn des Priesters erkannte. Pavlo Popov – so hieß er – war Büroangestellter in Moskau und dem Hörensagen nach einer aus der Schar der unterbezahlten Beamten, die zu jener Zeit die Dinge durch allerhand Mauscheleien und Bestechungen regelten.
Da überquerte Sawa Suvorin den Platz in der Nähe der beiden. Dabei nickte er dem Priester kurz zu. Sofort verneigten sich Vater und Sohn tief vor dem früheren Leibeigenen. Das war nicht nur eine höfliche Verneigung, sondern eine, wie sie vom Diener zum Herrn, vom Angestellten zum Geldgeber üblich war. Da plötzlich begriff Mischa. In diesem Augenblick bimmelte der langerwartete Schlitten über den Platz.
Mischa beachtete ihn nicht. Er konnte seine plötzliche innere Erregung nicht bezähmen. Er ging quer über den Marktplatz und sprach den Priester in der Mitte des Platzes laut an. »Sagen Sie, werden Sie von Suvorin und den Altgläubigen dafür bezahlt, daß Sie ihnen Ihre Gemeinde überlassen?« Der Priester lief dunkelrot an.
Mischa hatte ins Schwarze getroffen. Er bekam jedoch keine Antwort, denn in diesem Augenblick tönte eine aufgeregte Stimme vom anderen Ende des Platzes, wo die Zeitungen abgeladen wurden. »Es ist amtlich. Vom Zaren. Die Leibeigenen werden frei.« Da vergaß Mischa selbst den Priester und eilte über den Platz.
Väter und Söhne
1874
Pfeifend und rasselnd näherte sich der Zug der alten Stadt Vladimir, und die beiden unerwarteten Besucher blickten neugierig aus dem Fenster. Es war Frühling. Der Schnee war fast weggeschmolzen, doch da und dort lagen noch Schneeverwehungen oder schmutziggraue Schneestreifen. Alles, von abblätterndem weißen Verputz der Kirchen bis zu den braunen Feldern rund um die Dörfer, machte einen ungepflegten, unsauberen Eindruck. Überall glänzten große Pfützen, und die morastigen Straßen waren fast unpassierbar.
Obwohl die Reise lang gewesen war, waren die beiden Reisenden guter Laune. Nikolaj Bobrov war zwanzig Jahre alt, ein hübscher, schlanker junger Mann mit den regelmäßigen, leicht türkischen Gesichtszügen der Bobrovs. Er hatte einen kleinen, sorgfältig gestutzten Schnurrbart, einen weichen Spitzbart und dichtes dunkelbraunes lockiges Haar. Seine blauen Augen blickten selbstsicher. Sein Begleiter war nur ein Jahr älter, sah jedoch
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