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Russka

Russka

Titel: Russka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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die Bodenpreise künstlich hochzuschrauben. Außerdem hatten die Bauern Kopfsteuer zu zahlen, von der die Adligen befreit waren. Sie bezahlten weiterhin eine Menge Steuern auf Lebensmittel und Getränke, was die Armen schwer belastete. Daraus ergab sich letztlich, daß der Bauer Timofej nun, nach seiner Befreiung, für sein Land zehnmal soviel an den Staat abführen mußte wie Bobrov, der Herr. Timofej haßte seinen früheren Herrn nicht. Hatten nicht er und Mischa Bobrov als Kinder miteinander gespielt? Aber er wußte, daß der Adlige ein Parasit war. »Es heißt, der Zar habe den Bobrovs ihr Land gegeben«, erklärte Timofej seinen Kindern, »und zwar als Ausgleich für ihre Dienste. Aber der Zar braucht sie nicht mehr. Also wird er ihnen ihr Land bald wieder nehmen und es uns geben.« Diese simple Vorstellung teilten alle russischen Bauern: Habt Geduld! Der Zar wird es schon richten… So hatte Timofej auf bessere Zeiten gewartet. Boris Romanov war ein nett aussehender Junge, vierschrötig wie sein Vater, doch sein Haar war heller und lichtete sich bereits über der Stirn. Seine Augen blickten zwar trotzig, aber es waren gute Augen. Er wollte seiner Familie nicht weh tun, aber in den Monaten seit seiner Hochzeit war das Leben unerträglich geworden. Die Aufnahme seiner Frau in den Haushalt – sie war ein lebhaftes, goldhaariges Mädchen – hatte eine neue Rangordnung notwendig gemacht. Während Arina und Varja bis dahin Gehorsam vor allem von Natalia erwartet hatten, konzentrierten sie nun ihre Aufmerksamkeit auf Boris' Frau. Schließlich erreichte die Krise durch die unerwartete Schwangerschaft der Mutter ihren Höhepunkt. »Wir wollen auch eine Familie gründen«, protestierte Boris' Frau. »Wo sollen wir bleiben, wenn dieses neue Kind wichtiger ist?«
    Boris kam zu dem Schluß, daß es so nicht weitergehen konnte. Da machte er die schicksalhafte Ankündigung, er wolle ausziehen. Mehrere seiner Freunde hatten es in den vergangenen Jahren ebenso gemacht. »Es ist hart, wenn du deine eigene isba unterhalten mußt«, erklärten sie ihm, »aber es wird leichter. Und es ist wirklich besser so, dann gibt es nicht soviel Streit mit der Familie.« Boris hätte den Bruch schon früher herbeigeführt, aber aus einem Grund hatte er gezögert: Was würde aus seiner kleinen Schwester mit ihrer versteckten Auflehnung werden? »Sie werden sich an ihr schadlos halten, wenn wir nicht mehr da sind«, meinte er bekümmert zu seiner Frau. Er schlug Natalia vor, sie mitzunehmen, doch sie lehnte ab: »Geh nur, Boris. Mache dir keine Sorgen um mich, ich komme schon zurecht.«
    Eine Stunde später stand Timofej Romanov ziemlich bleich neben dem Mann, der nun über sein Schicksal entscheiden würde, und starrte über das offene Feld. Der Dorfälteste war ein kleiner, graubärtiger Bauer mit lauter Stimme und entschlossenem Auftreten, den Timofej respektvoll auf die althergebrachte Art mit dem Vaternamen Iljitsch ansprach.
    Aufgeregt schilderte Timofej die Situation und fragte atemlos, ob er jetzt ruiniert sei.
    Timofej Romanov war frei, und doch auch wieder nicht. So erging es den meisten ehemaligen Leibeigenen in Rußland. Nachdem nämlich die Leibeigenen Land und ihre Freiheit bekommen hatten, tauchte eine neue Frage auf: Was wäre, wenn diese Bauern, die nicht länger einem Herrn gehörten, sich umhertrieben und machten, was sie wollten? Wie konnte man sichergehen, daß das Land bestellt und die Steuern eingetrieben würden? Und so kamen die Behörden in ihrer Weisheit zu einer einfachen Lösung: Obwohl der Bauer rechtlich gesehen frei war, blieb er an seine Scholle gebunden. Das dem Gutsbesitzer abgenommene Land wurde nicht dem Bauern persönlich, sondern der Dorfgemeinde übergeben, die für Steuern und alles übrige verantwortlich war. Wenn, zum Beispiel, Timofej nach Moskau reisen wollte, mußte er bei dem Dorfältesten einen Paß beantragen wie vorher bei Bobrov. Der Dorfälteste nahm regelmäßig die Umverteilung der verstreut liegenden Flurstücke vor – soundsoviel guten, mittleren und schlechten Boden für jede Familie. Kurz und gut, Timofej Romanov war nun im Grunde Mitglied einer mittelalterlichen Dorfgemeinschaft ohne Feudalherrn, mit anderen Worten, einer Umverteilungsgenossenschaft.
    Wenn Boris den Ort verließ und sich selbständig machte, würde das Land neu aufgeteilt. Timofejs Anteil würde sich wahrscheinlich verringern. Dabei genügte nicht einmal sein derzeitiger Anteil, um den Unterhalt der Familie zu sichern

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