Russka
Baumwollspinnerei die Kirche bei weitem, und verglichen mit dem qualmenden Schornstein wirkte der alte Wachturm am Stadttor unscheinbar. Die Tuchfabrik war fast genauso groß. In langen, scheunenartigen Gebäuden war die Leinenfabrik untergebracht. Die Aussicht auf Verdienst lockte Menschen aus dem weiten Umkreis an, und der alte Sawa Suvorin herrschte über das Ganze.
Zuerst schien Peter das Leben dort gar nicht so unangenehm. Seine Großeltern wohnten in einem einfachen Steinhaus, das nicht ein Zehntel von der Größe des Moskauer Hauses hatte. Es war mit schweren, ziemlich häßlichen Möbeln eingerichtet. Was aber hatten die alten Leute mit ihm vor? Wenn Sawa Peter mit auf seine Rundgänge nahm, machte er keinerlei Andeutung, was den Enkel erwartete. Schließlich hatte Peter den Eindruck, der alte Mann habe seine Gesellschaft satt und werde ihn bald nach Moskau zurückschicken.
Kurz nach Weihnachten jedoch versetzte die Großmutter ihm den Schlag. »Wir haben beschlossen, daß du in der Leinenfabrik zu arbeiten anfängst«, verkündete sie gelassen. »Auf diese Weise lernst du auch das Dorf kennen.«
Maria Suvorins Gesicht war trotz ihres hohen Alters immer noch rundlich, ihre Nase noch spitzer. Sie lächelte nie. Unter schmalen Lidern blickten kalte graue Augen wie eh und je hervor. Wie die meisten einfachen russischen Frauen trug sie das weiße Haar in der Mitte gescheitelt, straff zurückfrisiert und hinten geknotet. Der einzige Luxus, den sie sich gestattete, waren kostbare Kleider aus Seidenbrokat, die sich nach unten wie eine Glocke weiteten. Um den Kopf schlang sie gern einen großen Schal, der die Schultern und die Oberarme bedeckte und unter dem Kinn mit einer Nadel zusammengehalten wurde, so daß Maria den buntbemalten russischen Püppchen ähnelte – ein freundlicher Anblick, der ihrem kalten Charakter widersprach.
»Aber ich bin für solche Arbeit ganz ungeeignet«, protestierte er. »Und was wird aus meinem Studium?«
»Damit ist es aus«, erklärte sie seelenruhig. »Du wirst doch wohl nicht erwarten, daß dein alter Großvater alle Arbeit für dich tut, nicht wahr?«
An jenem feuchtkalten Frühlingsmorgen nun hatte Peter das Gefühl, daß er es nicht länger ertragen konnte. Er hatte versucht, Interesse zu zeigen und irgend etwas zu entdecken, was seine Phantasie anregen könnte. Wenn etwa Sawa ihm berichtete, daß durch den amerikanischen Bürgerkrieg ihr Baumwollvorrat eine Weile nicht aufgestockt werden könne oder daß die Baumwolle nun aus Asien komme, beschwor Peter in sich das Bild ferner Schiffe, die am Horizont der Neuen Welt dahinzogen oder von Karawanen in der Wüste herauf und redete sich ein, das Unternehmen Suvorin sei Teil eines großen, aufregenden Abenteuers. Doch Tag für Tag sah er sich den gleichen endlosen Reihen der Spinnmaschinen gegenüber, und er empfand Russka immer mehr als ein Gefängnis. An jenem Morgen wurden die Unterkünfte der Arbeiter inspiziert, was Peter mehr haßte als alles andere. Da standen drei lange Reihen Holzhäuser für Arbeiterfamilien, die vielleicht gar nicht so übel gewesen wären, hätte man nicht in jedes Haus drei bis fünf Familien gezwängt. Als Großvater und Enkel einen Schlafraum betraten, wurde Peters Herz schwer. Der lange Raum war peinlich sauber, hell, luftig und warm. Er war weiß gestrichen, in der Mitte eine Reihe Holzpfeiler, links und rechts Betten, die aus breiten, flachen Holzkästen bestanden und zweigeteilt waren, so daß jede Hälfte Platz für eine schmale Matratze und einige Habseligkeiten bot. Also schliefen zwei Menschen, getrennt durch eine niedrige Unterteilung, in je einem Bett, auf jeder Seite des Schlafraumes dreißig Personen. Unter den Betten befanden sich verschließbare Holzkisten, und von der Holzdecke hingen Gestelle für die Kleidung. Männer und Frauen schliefen getrennt. Alles wirkte sehr ordentlich, doch zugleich deprimierend und menschenunwürdig. Die Leute, die hier lebten, waren entweder Bauernkinder aus fernen Dörfern, die ihre Familien regelmäßig besuchten und den bescheidenen Lohn ablieferten. Oder es waren ehemalige Leibeigene, die im Haushalt gearbeitet und durch den Befreiungsstatus ihre Freiheit erhalten hatten. Da sie jedoch keinen Anspruch auf Land hatten, waren sie heimatlos. Diese heruntergekommenen Kreaturen krümmten nun ihren Buckel, als Peter und der Großvater vorbeigingen.
Ich soll hier leben, dachte er, und dieses grausame System weiterführen. Diese traurigen Menschen und
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